Fragen und Fakten zur Kolberger Heide

Hintergrundinformationen zur Problematik von Rüstungsaltlasten im Meer

In den Jahren 2004 und 2005 wurden dort an zwei Stellen insgesamt 130 große Munitionsteile entdeckt. Weil zukünftig das Fahrwasser "Kiel-Fehmarnbelt" an Heidkate vorbeigeführt werden soll, ist geplant, diese Altlast jetzt sicherheitshalber zu beseitigen. Während der Munitionsbeseitigungsdienst Schleswig-Holstein zunächst eine Sprengung befürwortete, wiesen Naturschutzverbände auf die Gefahren hin und forderten ein Umdenken und eine Bergung. Auf einer Fachtagung von GSM, GRD und NABU am 18. Oktober 2007 wurden entsprechende Alternativen vorgestellt. Mittlerweile hat das Land Schleswig-Holstein eine Initiative gestartet, um Techniken zu erforschen, die eine umweltfreundliche Hebung der Munition im Modellgebiet Kolberger Heide ermöglichen sollen. Der Umgang mit der Problematik hat sich deutlich verbessert. Der NABU dokumentiert im Folgenden den Wissenstand und die Forderungen des NABU aus dem Jahr 2008. Vieles bleibt jedoch auch bis heute aktuell.

Wozu diese Internetseite?
Wer Informationen zu Munition oder gar Giftgas im Meer sucht, stößt bei Behörden oft auf eine Mauer des Schweigens. Wenn man Glück hat, werden einige Details kommuniziert, die sich aber nicht selten widersprechen, aus dem Zusammenhang gerissen und damit sinnverfälschend wiedergegeben werden - oder schlichtweg falsch sind. Auch ist es üblich, mit "wissenschaftlichen Erkenntnissen" zu argumentieren, dann aber Studien heranzuziehen die offensichtlich darauf angelegt sind, ein bestimmtes Ergebnis nicht zu erzielen. Im Folgenden wollen wir offizielle, aber widersprüchliche Informationen gegenüber stellen. Oder deren Anspruch auf Richtigkeit mit anderen Quellen relativieren. NABU, GSM und GRD wollen damit die Nutzer dieses Informationsangebots anregen, bei offiziellen Angaben "zwischen den Zeilen zu lesen" und Informationen kritisch zu hinterfragen.

Lage und Grösse
Das Munitionsversenkungsgebiet Kolberger Heide liegt nordöstlich der Kieler Außenförde in die Kieler Bucht auf Höhe des Urlaubsortes Heidkate bei Wendtorf. Das auf amtlichen Seekarten mit "Unrein (Munition)" ausgewiesene Versenkungsgebiet umfasst insgesamt ca. 12 km² und weist Wassertiefen von 5 bis 18 m auf. Die kürzeste Entfernung zum Badestrand beträgt nur ca. zwei Kilometer. Wenigstens vom Ende des 2. Weltkriegs bis in die 50er Jahre wurde hier Munition versenkt - möglicherweise aber auch schon nach dem 1. Weltkrieg.

Schadstoffbelastung
Das schleswig-holsteinische Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume (MLUR) sieht in der Sprengung von Munitionsaltlasten im Meer eine Möglichkeit, Schadstoffe unschädlich zu vernichten: "Anders als bisweilen gemutmaßt, gibt es (...) im Falle von Sprengungen über die unmittelbaren physikalischen Auswirkungen einer solchen Sprengung selbst keine konkreten Hinweise auf signifikante Umweltschäden durch Folgeprodukte. Auch sonst gibt sich das Ministerium im Jahr 2008 bezüglich der Gefährdung der Meeresumwelt durch Munitionsaltlasten allzu optimistisch. Zwei Studien sollen die Ungefährlichkeit von TNT und anderen Sprengstoffen im Meer beweisen.

Doch aus der Sicht von NABU, GSM und GRD sind sie dazu nicht geeignet: Zum einen eine Untersuchung des Wehrwissenschaftlichen Instituts für Werk-, Explosiv- und Betriebsstoffe (WIWEB) (Quelle) zu chemischen Vorgängen bei Unterwassersprengungen aus dem Jahr 1996 und ferner eine eigene Untersuchung des MLUR von Wasser- und Sedimentproben aus dem Munitionsversenkungsgebiet Kolberger Heide. Beide Untersuchungen sind darauf angelegt, gefährliche Problemstoffe nicht zu finden!

In der WIWEB Studie wurden Wasserproben "unmittelbar" nach der Unterwassersprengung von 100 kg TNT bzw. 500 kg des Sprengstoffs SSM8870 [1] genommen. Beide Sprengstoffe haben mit den Sprengstoffgemischen der Großsprengkörper der Kolberger Heide wenig gemeinsam, denn es handelt sich dabei um nicht durch Lagerung im offenen Meer gealterte Kampfmittel, deren Ladungsstruktur noch homogen ist und deren Zusammensetzung vom hier vermuteten Sprengstoff "Schießwolle 39" (siehe "Schießbaumwolle") abweicht.

Neben Hexogen und TNT wurden zwei Stoffe untersucht, die nicht primär bei einer Explosion entstehen, sondern aus der biologischen Umsetzung von TNT resultieren (2-Amino-4,6-DNT und 4-Amino-2,6-DNT). Keiner der Stoffe wurde bei den vorgegebenen Nachweis- und Bestimmungsgrenzen [2] gefunden. Anstelle von 1 Liter Wasserproben hätten jedoch Stoffe aus 1.000 Liter aufkonzentriert werden müssen.

Was die Zeitangabe "unmittelbar" nach Explosion bedeutet, wurde nicht weiter erläutert (in einer wissenschaftlich fundierten Studie ist dies jedoch stets genau anzugeben!). Erfahrungsgemäß dauert es mindestens eine halbe Stunde, mit dem Boot von außen in die Sicherheitszone zu fahren und Proben an 9 Mess-Stellen [3] zu nehmen. Innerhalb dieser Zeit ist aber mit einer starken Verteilung der Reaktionsprodukte zu rechnen, insbesondere bei einer Sprengung in flachem Wasser (17 m Wassertiefe).

Dasselbe gilt auch für die Untersuchungen, die das MLUR in Auftrag gegeben hat. Die Auswahl der untersuchten Stoffe ist nicht zu beanstanden, aber

• Proben wurden nicht an den bekannten Fundstellen gezogen sondern in hinreichend großer Entfernung. Dies hat das MLUR in einem Radiointerview auf NDR Info selbst eingeräumt (Quelle).
• Auch wurden keine Indikatororganismen wie Algen oder Miesmuscheln beprobt.
• Da viele der untersuchten Stoffe Krebs erregend, Allergie auslösend oder hormonell wirksam sind, genügen geringste Mengen, um schädlich auf die Meeresumwelt zu wirken. Die Nachweisgrenzen der Untersuchung sind mindestens um den Faktor 1.000 zu hoch.

Die Tatsache, dass TNT im Sediment sogar abseits der bekannten Munitionsfunde zumindest gemessen werden konnte, hätte das MLUR alarmieren müssen. In anderen Studien wurde nachgewiesen, dass sich TNT und deren Abbauprodukte in der Nahrungskette anreichern (Zur Anreicherung in Fischen und filtrierenden Organismen: Quelle). Für eine realistische Gefahrenanalyse müssen Bioindikatoren (z. B. Miesmuscheln) aus der Kolberger Heide untersucht werden.

Nach Auffassung der Naturschutzverbände kann Munition im Meer nicht gefahrlos durch Sprengung vernichtet werden. Kampfmittelräumdienste sprechen von einer "Vernichtungssprengung". In Wahrheit aber es handelt sich eher um Verteilungssprengungen, zumal mit einer Detonation benachbarte Sprengkörper zerrissen werden und ihren gefährlichen Inhalt in die Ostsee entleeren. Gerade bei alten Sprengstoffgemischen ist es vom Zufall abhängig, ob eine "High Order Sprengung" gelingt, die einen Grossteil der meist hochgiftigen Substanzen durch Verbrennung umsetzt. Bei der "Low Order Sprengung" oder "Deflagration", die stattdessen erfolgen kann, verbleibt ein erheblicher Rest toxischer Substanzen im Meer (Quelle). Gerade die High Order Sprengung hat allerdings den Nachteil, dass eine enorme Druckwelle entsteht, die in weitem Umkreis Meeressäugetiere und Fische tötet (Quelle).

Giftgas
In der Drucksache 15/479 des Schleswig-holsteinischen Landtags, einer Antwort auf die kleine Anfrage des CDU Abgeordneten Manfred Ritzek aus dem Jahr 2000 heißt es wörtlich: "In den deutschen Hoheitsgewässern der Ostsee wurde keine Kampfstoffmunition versenkt (mit Ausnahme einer möglichen Versenkung auf den Zufahrtswegen), so dass hier auch keine Bedrohung vorhanden ist."

Im Oktober 2007 erklärt das Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume: "In den schleswig - holsteinischen Küstengewässern versenkte Kampfstoffe, also zum Beispiel Giftgas-Munition wurden schon in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder geborgen. Von dieser Art Munition dürfte daher keine besondere Gefährdung mehr ausgehen." (Information im Informationsportal des Umweltministeriums Schleswig-Holstein zum Thema "Munitionsaltlasten im Meer" vom 18. Oktober 2007). Man fragt sich also: Wenn in deutschen Hoheitsgewässern keine Kampfstoffmunition versenkt worden ist, wie konnte dann in Schleswig-Holstein derartige Munition geborgen werden?

Vielleicht ist die Existenz von Giftgas im Meer auch nur eine Frage geschickter Umdefinierung, wie ein Beispiel zeigt: In der Lübecker Bucht wurden 1961 vor der Trave-Mündung in ca. 20 m Wassertiefe auf Anordnung der Stadt Lübeck 13 Flaschen mit insgesamt 520 l Chlorgas und je eine Flasche mit 10 l Lachgas bzw. 10 l Phosgen versenkt. Obwohl es sich bei dieser Versenkung auch um die beiden besonders gefährlichen chemischen Kampfstoffe Chlorgas und Phosgen gehandelt hat, wurde und wird diese Maßnahme offiziell nur als einfache Chemikalienbeseitigung bewertet. Bis heute ist die Versenkungsstelle auf keiner amtlichen Seekarte verzeichnet.

Es gibt dagegen Hinweise, u. a. aus dem Bundesverteidigungsministerium, dass bei Kiel bzw. vor der Probstei Giftgasmunition versenkt wurde. Damit dürfte das Munitionsversenkungsgebiet Kolberger Heide gemeint sein, da es keine andere offizielle Munitionsversenkungsstelle in diesem Seegebiet gibt. Eine umfassende historische und technische Erkundung ist aus Sicht von NABU, GSM und GRD unabdingbar, weil beim Sprengen auch Giftgas austreten könnte.

Menge
Im Munitionsversenkungsgebiet Kolberger Heide wurden nach Aussage des langjährigen Leiters des Kampfmittelräumdienstes Schleswig-Holstein, Herrn Kinder, u.a. 8.000 Torpedosprengköpfe und 10.000 Seeminen versenkt. Zufällig gefunden wurden 2004 lediglich 60 Torpedosprengköpfe und 20 Grundminen, und 2005 noch einmal 50 Ankertauminen. Seit April 2005 wurden 33 dieser Großkampfmittel gesprengt. Wo befindet sich also der Rest? (Quelle).

Auf dem Symposium "Neue Methoden der Munitionsbeseitigung in Nord- und Ostsee" erklärte Helmut Preugschat vom Amt für Katastrophenschutz, anlässlich der olympischen Segelwettbewerbe 1972 hätte es Aufräumarbeiten im Bereich der Regattastrecken gegeben, die demnach zumindest teilweise auch das Munitionsversenkungsgebiet Kolberger Heide umfassten. Möglich. Es ist allerdings auch nicht auszuschließen, dass noch ein erheblicher Teil der Munition in der Kolberger Heide unter Sediment vergraben liegt. Sie birgt bei Sprengungen eine erhebliche Gefahr.

Selbstdetonation
Das Amt für Katastrophenschutz betont die Gefährlichkeit der in der Kolberger Heide gefundenen 130 Großsprengkörper. Deshalb sei Gefahr im Verzuge und eine Sprengung unumgänglich. Als Beispiel werden 47 Selbstdetonationen angeführt, die im Munitionsversenkungsgebiet Beaufort Dyke in Schottland vom British Geological Survey zwischen 1992 und 2004 nachgewiesen wurden (Quelle).

Die beiden Versenkungsgebiete sind allerdings nicht vergleichbar, weil in der Kolberger Heide nach derzeitigem Kenntnisstand unbezünderte Arsenalmunition versenkt wurde und in Beaufort Dyke ein großer Teil der Munition bezündert ist. Auch die Größenordnung ist nicht vergleichbar: In Beaufort Dyke wurden weit über 1.000.000 Sprengkörper versenkt.

In welchen Munitionsteilen steckt welcher Sprengstoff?
Das Amt für Katastrophenschutz hat bislang kommuniziert, dass sämtliche gefundenen Großsprengkörper hochbrisante Schießwolle 39 (siehe Schießwolle) enthalten. Auf Nachfragen erklärte das Amt für Katastrophenschutz, es gäbe diesbezüglich keine Analysen. Es handle sich vielmehr um eine Vermutung, dass in Torpedosprengköpfen und Grundminen Schießwolle 39 enthalten ist, weil das normalerweise so sei (Äußerung von Herrn Preugschat am 19. Oktober 2007). In den Ankertauminen könne man es nicht genau sagen. Ein Indiz aber, dass Ankertauminen nicht Schießwolle 39 enthalten, ist die Tatsache, dass im 2. Weltkrieg in Deutschland Aluminium (zu 20 % Bestandteil der Schießwolle 39) knapp war, und daher eher in aktiv verschossener Munition eingesetzt wurde als in passiver Massenmunition wie Minen.

Alterung von Schiesswolle 39
Schießwolle 39 ist ein Gemisch aus TNT, Hexanitrodiphenylamin, Ammoniumnitrat und Aluminium. Das Amt für Katastrophenschutz behauptet: Durch Alterung der Stabilisatoren von Schießwolle 39 und Einfluss von Seewasser würde dieser Sprengstoff noch brisanter als er es ohnehin schon war. Das Amt verweist auf eine von Bohn (2007) vorgestellte Untersuchung (Quelle).

Schiesswolle 39 enthält anders als die nitrozellulosehaltige Schiessbaumwolle [4] gar keine Stabilisatoren. Auch wird sie nicht signifikant sensitiver bei Kontakt zu NaCl - Lösungen (Meerwasser). Die im Zusammenhang mit der Kolberger Heide diskutierten Marinesprengstoffe haben nichts mit der von Bohn (2007) vorgestellten Untersuchung an Flak-, Feldhaubitzen- und Artilleriegeschossen zu tun.

Die "Brisanz" eines Sprengstoffes (das Zertrümmerungsvermögen der Stoßwelle) wird im Übrigen durch alle nicht energetischen Zuschlagstoffe herabgesetzt. Bei einem Zusatz von über 10 % Aluminium [5] (ca. 20 % in Schießwolle 39) nimmt die Empfindlichkeit also eher ab.

Aus Sicht von NABU, GSM und GRD sollte man zunächst Realproben ziehen und mit geeigneten Methoden untersuchen (z. B. HPLC, Gaschromatographie, Messung von Schlagempfindlichkeit und Brisanz). Dabei soll die Gefährlichkeit der Marinemunition nicht bestritten werden. Aber die Globalaussagen des AfK sind für eine nach dem Stand der Forschung und Technik erstellte Gefahrenabschätzung nicht zielführend.

SKo, ILu akt. 6. Februar 2015

Erläuterungen
[1] 40,9 % TNT, 30,5 % Hexogen, 23,8 % Aluminium, 4,8 % Phlegmatisat
[2] für TNT: NWG 0,05 µg/l, BG 0,16 µg/l, für Hexogen: NWG 0,06 µg/l, BG 0,20 µg/l
[3] 0 m, 30 m und 50 m Abstand der Sprengung, je in 0 m, 7,5 m und 15 m Wassertiefe
[4] Marinemunition bestand in den Anfängen der Nitrochemie einige Zeit aus gepresster feuchter Schießbaumwolle. Davon ist man dann recht schnell wieder nach 1900 abgekommen. Lediglich die Bezeichnung Schießwolle hat sich erhalten.
[5] Zweck des Aluminiumzusatzes ist die Verlängerung der Wirkdauer, um Schiffsrümpfe aus Stahl zu zerstören.