Wieder Jagd auf Seehunde?
Landesjagdverband und Fischerei fordern 'Einregulierung' I NABU dokumentiert Stellungnahme des Nationalparkamtes
In verschiedenen Zeitungen Schleswig-Holsteins wird wieder zur Jagd auf Seehunde geblasen. "So viele Seehunde gab es noch nie!" und "Experten wollen Seehunde zum Abschuss freigeben", titeln die Husumer Nachrichten im schleswig-holsteinischen Zeitungsverlag vom 24. Juli 2012. Der Kommentator Till H. Lorenzen sieht "falsch verstandene Tierliebe" am Werk und das "biologische Gleichgewicht" aus den Fugen, wenn nicht in die Seehund-Bestände wie in alten Zeiten eingegriffen wird. Dass der Natur- kein Tierschutz ist und sich auch nicht von Kulleraugen beeinflussen lässt, geht da schon mal unter: Denn auch dem uneingeschränkten Erhalt von Kormoranen und Rabenvögeln haben sich NABU und Co. schon lange verschrieben - Kindchenschemata wird man bei diesen schwarzen Vögeln jedoch vergeblich suchen. Viel wesentlicher: "Natur Natur sein lassen" - der grundlegende Nationalparkgedanke, der der Natur in diesen Juwelen unseres Naturerbes ihren unbeeinflussten Lauf lässt, bleibt trotz eines großen Informationsangebotes manchen Menschen auch weiterhin fremd.
Die Stellungnahme offenbart unfreiwillig aber auch, wie wenig die Nationalparkidee - eine maßgebliche Grundlage des Schutzes unseres Naturerbes - bei Jagdvertretern akzeptiert ist. Der Landesjagdverband als ein nach § 59 Bundesnaturschutzgesetz "anerkannter Naturschutzverband": es ist zu prüfen, ob ob solcher naturschutzwidriger Positionen dieser Status dem LJV nicht entzogen werden sollte. Auch die vom NABU mehrfach dokumentierte, laxe Handhabung des Jagdrechtes bei manchen Lodenträgern wie auch die überwiegend eigennützige statt ideelle Tätigkeit böten genügend Ansätze.
Nur ein "Sommerloch"?
Man mag die Jagdhetze auf Seehunde dem "Sommerloch" schulden. Das starke Engagement des Jagdverbandes zeigt jedoch, dass mehr dahinter steckt: War in den letzten Jahren unter den CDU- geführten Landesregierungen das "Einregulieren" stark in Mode gekommen - siehe drastisch erweiterte Abschussmöglichkeiten in der Landesjagdzeitenverordnung, aber auch Kormoran-, Gänse- und Rabenvogelhatz - haben Naturfreunde jetzt die Hoffnung, dass sich mit der neuen, SPD-geführten Landesregierung und unter einem grünen Umweltminister deutliche Verbesserungen ergeben.
Da kann es aus Sicht der beiden Nutzerverbände wohl nur hilfreich sein, im Vorwege Stimmung für die eigene Ideologie zu machen - gegen jede wissenschaftliche Erkenntnis (s. Stellungnahme der Nationalparkverwaltung unten). Der NABU sieht das Thema daher vor allem als vorauslaufende Propaganda der Jagd- und Fischereilobby gegen angekündigte, drastische Verbesserungen beim Artenschutz. Die Landesregierung bleibt aufgefordert, sich nicht beirren zu lassen und die im Koalitionsvertrag festgelegten, notwendigen Korrekturen um so schneller umzusetzen.
ILu 25. Juli 2012
Stellungnahme der Nationalparkverwaltung
Fakten liefern ein ganz anderes Bild
Laut mehrerer Artikel im SHZ und Regionalzeitungen vom 24.07.2012 fordert der dänische Seehundexperte Thyge Jensen, die Jagd auf Seehunde wieder aufzunehmen, weil der Bestand eine Rekordhöhe erreicht hätte. Anstatt eine erneute Epidemie zu riskieren und 100 t Fleisch am Strand verrotten zu lassen, sollten die Tiere lieber als Ressource genutzt werden. Die Seehunde würden in Dänemark auch die Eiderentenbestände drastisch reduzieren. Der Vorsitzende des schleswig-holsteinischen Fischereiverbandes, Lorenz Marquardt, unterstützt die Forderungen nach Jagd oberhalb eines Grenzwertes von rund 15.000 Seehunden im gesamten Wattenmeer. Seiner Auffassung nach seien die Seehunde dafür verantwortlich, dass im Watt kaum noch Plattfisch, Kabeljau und Schellfisch gefangen wird. Auch der Geschäftsführer des Landesjagdverbands, Andreas Schober, hat sich unterstützend geäußert. Dagegen sind das Trilaterale Wattenmeersekretariat (CWSS, Jens Enemark), die Seehundstation Friedrichskoog (Tanja Rosenberger, eine Einrichtung des Landesjagdverbands) sowie die Nationalparkverwaltung und das Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume mit ablehnenden Stellungnahmen in den Regionalzeitungen zitiert.
Bewertung aus fachlicher Sicht
Typisches Sommerlochthema, das regelmäßig „hochkocht“. Der Forderung sind folgende Fakten gegenüber zu stellen:
Bestand
Der Seehundbestand hat heutzutage mit rund 31.000 Tieren im dänisch- deutsch- niederländischen Wattenmeer fast wieder die Größe, die er vermutlich vor etwa hundert Jahren hatte, bevor eine intensive Jagd auf ihn begann. Für damals wurde ein Bestand von 37.000 Tieren berechnet. Dies entspricht möglicherweise etwa seiner natürlichen Populationsgröße.
Seehundzählungen werden im gesamten Wattenmeer (D, DK und NL) seit vielen Jahren koordiniert durchgeführt und gemeinsam veröffentlicht. 2011 wurden insgesamt im Wattenmeer 24.118 Seehunde gezählt, davon 3.105 in DK, 8.493 in SH, 4.699 in NI und HH zusammen und 7.821 in NL. Der tatsächliche Bestand ist etwa 1/3 größer als der gezählte Bestand. Der Zuwachs gegenüber dem Vorjahr in DK war 9%, in SH 2%. Die Zahlen in NI und HH haben abgenommen (um 9%), in NL stark zugenommen (34%). Es ist davon auszugehen, dass Wanderungen zwischen den Gebieten dabei eine Rolle spielen (s. Grafik der Bestandsentwicklung seit 1975).
Die Jagd-Befürworter behaupten, nur ein kleiner Bestand sei ein gesunder Bestand, während bei einer großen Seehunddichte der Ausbruch von Seuchen vorprogrammiert sei. Dagegen spricht jedoch, dass im Jahr 1988, als die erste Seehundstaupe ausbrach und 60 Prozent der Seehunde dahinraffte, die Population kleiner war als jetzt: Im ganzen Wattenmeer lebten damals 10.000 Individuen.
Biologisches Gleichgewicht
Es ist die Kernidee aller Nationalparks, die ursprüngliche Natur der ungestörten Entwicklung zu überlassen: Natur Natur sein lassen. Das resultiert nicht in einem „biologischen Gleichgewicht“, wie viele annehmen, sondern in ständiger Veränderung. Die Natur kennt keinen Idealzustand, aus Sicht der Natur gibt es kein „gut“ oder „schlecht“. Jedes Ökosystem ist einem ständigen Wandel unterworfen. Schwankungen in der Anzahl an Tieren und Pflanzen gehören dazu – auch bei Seehunden.
Fehlende Feinde
Die Vorstellung, dass der Seehundbestand natürlicherweise durch Räuber reguliert wird, ist verbreitet, aber falsch. Seehunde gehören selbst zu den natürlichen Top-Prädatoren. Wie bei vielen anderen großen Säugern sind andere Faktoren entscheidend, etwa das Nahrungsangebot, die Klimasituation, der Krankheits- und Parasitendruck oder geeignete Gebiete für die Aufzucht der Jungen. Prädatoren (beispielsweise Orcas) spielten für Seehunde nie eine Rolle.
Eiderenten
Dass Seehunde Eiderentenküken fressen, ist bekannt. Es gibt aber keine seriösen Hinweise, dass dies einen Effekt auf den Eiderentenbestand hat. Für die Bestandsentwicklung der Eiderenten sind andere Faktoren entscheidend, z.B. der Rückgang natürlicher Muschelbestände als Hauptnahrung der Eiderenten oder in Dänemark die dort noch immer stattfindende Jagd.
Auswirkungen auf die Fischerei
Im SH Wattenmeer haben die Fischer nie in größerem Umfang Kabeljau und Schellfisch gefangen, weil diese Arten im Wattenmeer naturgemäß kaum vorkommen. Schollen machen rund 20 % der Seehundnahrung aus. Für Nahrungsknappheit bei Seehunden und Konkurrenz zur Fischerei gibt es keine Anzeichen bei der Entwicklung des Seehundbestands, der Ernährungszustand der Tiere (gemessen an der Dicke der Speckschicht) ist gut.
Auswirkungen auf den Tourismus
Die Wiedereinführung der Jagd würde die Seehunde scheu machen. Der seit einigen Jahrzehnten eingetretene „Nationalparkeffekt“ (Vertrautheit und geringe Scheu vor Menschen) wäre dahin. Ausflugsfahrten zu den Seehundbänken würden nur noch leere Bänke zeigen. Eine natur-touristische Top-Attraktion Schleswig-Holsteins gäbe es dann nicht mehr.
Kadaverentsorgung
Die Entsorgung 10.000er Kadaver am Strand hat bei den Seehundstaupeepidemien 1988 und 2002 in der Zusammenarbeit von Seehundjägern und zuständigen Behörden gut funktioniert. Der Tourismus hat unter diesem Naturphänomen nicht gelitten, wie die aktuellen Tourismuszahlen zeigen.
Rechtliche Situation
Weil eine Bejagung von Seehunden nach langjähriger Erfahrung und international abgestimmter Auffassung weder sinnvoll noch erforderlich ist, gibt es eine Reihe rechtlicher Hindernisse, die dies ausschließen:
• Nationalparkgesetz mit vollständigem Verbot der Jagd im Nationalpark
• Landesjagdgesetz
• Bundesjagdgesetz
• Völkerrechtlich verbindliches Abkommen zur Erhaltung der Seehunde im Wattenmeer nach der Bonner Konvention zur Erhaltung wandernder wild lebender Tierarten; in diesem Rahmen wird der zwischen D, DK und NL vereinbarte „trilaterale Seehundmanagementplan“ regelmäßig fortgeschrieben (zuletzt 2011)
• Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der EU
• Artenschutzrecht von EU und Bund
Abschließende Bewertung
Die Zunahme des Seehundbestandes seit der Einstellung der Jagd Mitte der 1970er Jahre und nach zwei schweren Epidemien 1988 und 2002 ist einer der großen Erfolge der Schutzgebiete im Wattenmeer, die seit Mitte der 1980er Jahre in Deutschland mit den 3 Nationalparks in SH, NI und HH sowie in DK und NL eingerichtet wurden. Mit der Anerkennung als Weltnaturerbe wurde die weltweit herausragende Bedeutung bestätigt (u.a. auch als Beitrag zur Erhaltung von Arten und der biologischen Vielfalt). Für eine erneute Bejagung der Seehunde gibt es keine biologische Begründung, sie wäre politisch falsch und ist rechtlich nicht möglich.
Ergänzende Anmerkung
Die von Herrn Jensen aus Dänemark geäußerte Idee, das Fleisch von geschossenen Seehunden verwerten zu wollen („ausgezeichnetes Fleisch“) ist vollständig abwegig. Das Fleisch der Seehunde ist mit Schadstoffen aller Art (z. B. Quecksilber, PCB) hoch belastet. Wir haben sogar schon einmal eine Diskussion geführt, ob die Kadaver in einer normalen Tierkörperbeseitigungsanstalt beseitigt werden dürften, oder ob es sich um Sondermüll handelt! Auch dies unterstreicht die „Sommerlochthese“. Das Fleisch wurde im Übrigen zu Zeiten der legalen Jagdausübung nicht verwertet. Die Seehunde wurden, nachdem man das Fell als Jagdtrophäe abgezogen hatte, wieder ins Meer geworfen.