In Schleswig-Holstein stehen Ampeln auf Rot
NABU-Atlas: beschämendes Bild des Naturschutzes in Deutschland
Berlin, Neumünster, 2. März 2012: Zum Internationalen Tag des Artenschutzes veröffentlicht der NABU eine aktuelle Analyse des Zustandes des Naturschutzes in Deutschland. Erstmals zeigt ein Atlas das bundesweite Bild des Artenschutzes und macht die aktuelle Bedrohungssituation prioritär schützenswerter Vogelarten und seltener Lebensräume sichtbar.
„Das Ergebnis ist beschämend“, sagt NABU-Präsident Olaf Tschimpke. „Die Untersuchung zeigt, dass das Vorzeigeland Deutschland in Sachen Artenschutz den eigenen vollmundigen Bekundungen hinterher hinkt. Tatsache ist: Allein durch die Ausweisung von Schutzgebieten sind noch keine Art und kein Lebensraum gerettet. Es braucht vor allem die Finanzierung der Arbeit für den Erhalt der biologischen Vielfalt, sonst ist das akute Artensterben nicht zu stoppen.“ In Schleswig-Holstein weisen aktuell fast alle Arten der FFH-Richtlinie - beurteilt nach den Situationsbeschreibungen in den "Roten Listen" des Landes - einen schlechten Erhaltungszustand auf. Das Land erfüllt in der Gesamtschau nicht einmal zu einem Drittel seine Verpflichtungen zum Erhalt der biologischen Vielfalt.
Schleswig-Holstein sieht rot
In keinem einzigen Bundesland stehen die Ampeln für einen erfolgreichen Arten- und Biotopschutz auf Grün. Das ergab schon im Jahr 2010 eine Analyse der Umweltverbände BUND und NABU. Auch 20 Jahre, nachdem sich die EU-Mitgliedstaaten mit der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie zu mehr Anstrengungen im Naturschutz verpflichtet haben, gibt es nur in Einzelfällen Erfolge, etwa bei Otter, Biber, Uhu, Kranich, Seeadler oder Wolf. Dies jedoch in vielen Fällen ohne aktive Unterstützung durch die Länder. In Schleswig-Holstein weigert sich das Land bis heute, bleifreie Munition bei der Jagd vorzuschreiben – zum Schaden für Greifvögel wie den Seeadler. Die Gesamtschau zeigt entsprechend, dass der Zustand vieler Sorgenkinder der Artenvielfalt immer noch bedrohlich ist“, erklärt Tschimpke. So drohen insbesondere Arten der Agrarlandschaft wie Trauerseeschwalbe, Kiebitz und Uferschnepfe zu verschwinden. „Schleswig-Holstein ist zudem das einzige Bundesland, in dem der Ökolandbau auf Grund gestrichener Föderung zurückgeht. Der Grünlandumbruch für Agrarmais schreitet dagegen weiter voran“, kritisiert NABU-Landesvorsitzender Hermann Schultz.
„Der Natur- und Artenschutz muss viele Versäumnisse der Vergangenheit reparieren. Umso dringender ist es, dass wir heute nicht noch weitere Fehler machen“, betont Tschimpke. So fordert der NABU von Bund und Ländern auch konkrete Maßnahmen zum Schutz von Arten und Lebensräumen, die noch nicht akut bedroht sind. Doch für zahlreiche Arten veröffentlichen die Bundesländer ihre Untersuchungen nicht und erschweren so zusätzlich effektiven Arten- und Biotopschutz, wie die NABU-Analyse auf der Basis der öffentlich erhältlichen Daten und Expertenbefragungen zeigt.
Bereits 2007 hatte die Bundesregierung mit der Nationalen Strategie zur Biologischen Vielfalt ein Paket mit 330 Zielen und rund 430 Maßnahmen verabschiedet. Doch immer noch gibt es in den meisten Bundesländern keine konkreten Handlungsanleitungen zum Schutz der Vielfalt an Arten, Lebensräumen und genetischem Erbe der Natur. Lediglich in Berlin und Thüringen wurden Strategien verabschiedet und sind für 2012 in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen geplant. Schleswig-Holstein hatte zwar zunächst über eine Entwurfsfassung diskutiert, diese aber wegen inhaltlichen Differenzen zwischen Landwirtschaft und Umweltministerium nie verabschiedet.
Zwar sieht die Entwicklung des europäischen Schutzgebietsnetzwerks Natura 2000 zunächst vielversprechend aus: In 20 Jahren hat Europa auf fast 20 Prozent seiner Flächen dem Natur- und Artenschutz besondere Bedeutung eingeräumt, Deutschland allein im europäischen Schutzgebietsnetzwerk Natura 2000 immerhin 15,4 % der Landfläche. „Eine große Leistung, die ohne die Arbeit der Bundesländer unmöglich gewesen wäre“, lobt der NABU-Präsident. Auch die Aufstellung von Managementplänen für die Gebiete mache Fortschritte. „Doch der Teufel liegt im Detail und bei der konkreten Umsetzung“, kritisiert Tschimpke. So würden beispielsweise im Waldnaturschutz oft nur die bestehenden Bewirtschaftungsplanungen der Forstbetriebe fortgeschrieben und als EU-konformes Management deklariert. „Das heißt Defizite wie fehlendes Totholz, ungenügender Schutz alter Baumbestände und fehlende Vernetzung von Lebensräumen bleiben unangetastet und bekommen nur ein grünes Mäntelchen.“ Rein formale Fortschritte gibt es hier auch in Schleswig-Holstein, da vom Land mittlerweile zahlreiche Managementpläne erstellt wurden. Diese sind in vorauseilender Opportunität gegenüber den Flächeneigentümern jedoch viel zu unkonkret gehalten und gehen bestehende und absehbare Probleme für den Erhalt des Naturerbes im Land zwischen den Meeren kaum an, wie Ende 2011 eine Analyse des NABU Schleswig-Holstein gezeigt hat.
Zudem behinderte die einseitige, nur auf die landwirtschaftliche Klientel bezogene Politik der letzten beiden Landesregierungen eine effektive Naturschutzarbeit. Der massive Abbau von Standards im Naturschutzrecht trug dazu ebenfalls bei.
Mangelhafte Finanzierung
Es fehlt vor allem aber auch an der Finanzierung, um Natura 2000 für den effektiven Schutz von Arten und Biotopen einzusetzen, analysiert der NABU. Bislang wird nur ein Bruchteil der dafür EU-weit nötigen sechs Milliarden Euro jährlich aufgebracht, in Deutschland würden jährlich rund 620 Millionen Euro gebraucht. Besonders peinlich: Bislang legt kein Bundesland die für den Naturschutz verwendeten Mittel transparent offen. „Mit dieser Geheimhaltung macht sich Deutschland lächerlich“, erklärt Tschimpke. „Denn von den Entwicklungsländern fordern wir als Bedingung für weitere Mittel, dass sie klar und transparent beziffern, wie viel Geld sie für den Schutz ihrer biologischen Vielfalt ausgegeben – aber zuhause sind Bund und Länder dazu selbst nicht bereit.“
Mit der mangelnden Finanzierung werden auch große wirtschaftliche Chancen vertan, kritisiert der NABU. „Mit einer Reform der EU-Subventionen könnte Natura 2000 kurzfristig 130.000 neue Jobs in Europa schaffen. Es sollte möglich sein, drei Prozent des EU-Budgets für den Natur- und Artenschutz zu reservieren – und nicht mehr als das Zehnfache davon für Agrarsubventionen zu verpulvern, die unsere Natur belasten und deren Produkte immer mehr Verbraucher ablehnen“, appelliert Tschimpke an die Bundesregierung, ihren Einfluss in Brüssel geltend zu machen.