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Radikaler Fangstopp notwendig
Der Hering gilt als das „Silber der Ostsee“. Man spricht bei Dorsch und Hering von Brotfischen. Es sind die Arten, die der Ostseefischerei das Auskommen, sowie Fischhändler*innen und Restaurants seit jeher ein gutes Geschäft sichern. Schon zu Zeiten der Hanse galt der Hering als wichtiges Handelsgut. Siedlungen an der Ostsee wurden gern dort gegründet, wo die Heringsschwärme auf ihrer Wanderung vorbeizogen. Ein Zeitzeugnis ist die Alte Salzstraße, auf der das Salz zur Heringsverarbeitung im Mittelalter massenhaft von Lüneburg an die Küste nach Lübeck gekarrt wurde. Radfahrer*innen freuen sich, hier heute als Nachnutzung einen landschaftlich reizvollen Radfernweg durch das Herzogtum Lauenburg vorzufinden.
Nach 2021 wurde der Hering auch 2022 zum „Fisch des Jahres“ gewählt, um auf die dramatische Situation hinzuweisen, denn das Auskommen der Fischerei durch den Fang der „Silberlinge“ findet nun offensichtlich sein Ende. Zu lange hat die Politik, die sich von Legislaturperiode zu Legislaturperiode hangelte, die Auseinandersetzung mit der Fischerei gescheut, an erster Stelle aber wissenschaftliche Erkenntnisse negiert, Empfehlungen zum Schutz der Meeresumwelt in den Wind geschlagen und kräftig an dem Ast mitgesägt, auf dem die Fischer*innen sitzen.
Schon vor 10 Jahren gewannen die Warnungen von Wissenschaftsseite an Schärfe, als Dr. Rainer Froese, Fischereibiologe am GEOMAR, als Fazit ernüchternder Studien verlautbarte, dass es Dorsch und Hering an der deutschen Ostseeküste schlechter ginge als dem Dorsch in der restlichen Ostsee und dem Hering in der Bothnischen See. Als Erklärung führte er den weit überhöhten Fischereidruck auf die deutschen Bestände an, den Deutschland Jahr für Jahr auf Drängen der Fischereilobby in Brüssel durchgesetzt habe. Im Jahr 2020 warnte Froese erneut und präsentierte schockierende Ergebnisse, die die Wissenschaftler*innen des GEOMAR in Kooperation mit Kieler Berufsfischern zum Zustand und Laicherfolg von Dorsch und Hering in der Förde erarbeitet hatten.
Der Heringsbestand ist mittlerweile derart geschrumpft, dass er in der westlichen Ostsee nicht mehr in der Lage ist, sein Laichgebiet vollständig mit Eiern zu bestücken. Ein Fischer aus Laboe kommentierte im Herbst 2020 den Einbruch: „Normalerweise sehe ich um diese Jahreszeit Schwärme von Jungheringen im Flachwasser. Jetzt ist nichts da.“ Das Geomar ging davon aus, dass dieser Jahrgang nahezu vollständig ausgefallen ist. Für die Politik jedoch immer noch kein ausreichender Grund für wirklich einschneidende Maßnahmen.
Heringssaison in Kappeln an der Schlei
In Kappeln an der Schlei ist der Hering allgegenwärtig: die „Heringstage“ sind hier das größte Fest des Jahres, vor dem Hafen in der Schlei steht der älteste Heringszaun Europas. An der Wasserkante stehen im März/April die Angler*innen aus Nah und Fern dicht gedrängt und feiern den Durchzug des Herings in die Laichgebiete, der für viele Tiere hier bereits endet. „Der Hering ist schon im Februar da – die ersten Angler auch!“ titelt der Schlei-Bote zum Saison-Beginn 2022, um dann die O-Töne vieler begeisterter Angler*innen einzufangen. „Im vergangenen Jahr habe ich etwa 700 Heringe gefangen“, sagt ein Angler aus Friedrichstadt stolz. Weitere äußern sich ebenso begeistert und reich beschenkt und berichten, wie sie Verwandtschaft und Freundeskreis reichlich mit den Silberlingen eindecken. Ein Hinterfragen findet hier in den Medien nicht statt.
Als der Internationale Rat für Meeresforschung (ICES), der in Europa als das offizielle Beratungsgremium fungiert, im Herbst 2021 die jahrelangen Mahnungen noch einmal verschärfte, beschloss die EU endlich restriktivere Fangquoten als Notbremse für Dorsch und Hering – wiederum gegen das Votum der deutschen Bundesregierung. Lobend zu erwähnen ist der Einsatz des frisch gekürten Fischereiministers Özdemir, der im Dezember vergangenen Jahres erfolgreich darum kämpfte, anhand der Fangquoten im Skagerrak und Kattegat für eine Erholung des Heringsbestands zu sorgen, denn in diesem Teil des Meeres frisst sich der Ostseehering über den Winter Fett an, um dann gestärkt in die Laichgebiete an unseren Küsten zurückzukehren. Es ist zu hoffen, dass die neue Bundesregierung ein solches Engagement auch der Meeresumwelt in deutschen Gewässern angedeihen lässt, um dem begonnenen Massensterben entgegenzuwirken.
Ursachen des Untergangs
Der Untergang des Herings macht sich nicht allein an den über Jahrzehnte ambitionslosen Fangquoten fest. Neben der Überfischung hat der schlechte Umweltzustand der Ostsee seinen Anteil daran. Gülle, Düngemittel und alte Kläranlagen bedingen, dass die Ostsee zu annähernd 100% eutrophiert – also mit zu vielen Nährstoffen überfrachtet – ist. Im Wasser schwebende Kleinalgen profitieren davon. Ihr Wachstum mindert das Sonnenlicht jedoch am Meeresboden, so dass Seegras und Braunalgen nur noch in küstennahen Gebieten zu finden sind. An diese Pflanzen heften die Heringe jedoch ihre Eier, zudem finden die Larven dort Schutz. Sinkt die Algen-Biomasse schließlich zum Meeresboden, deckt sie zudem die Laichpflanzen ab. Gleichzeitig beginnt der Zersetzungsprozess, der derart viel Sauerstoff verbraucht, dass das gesamte Leben am Meeresboden leidet. Tote Zonen in der Ostsee sind das Resultat.
Große und kleine Baumaßnahmen dezimieren weiterhin großflächig die Laichgebiete, sei es durch die Fehmarnbeltquerung in Schleswig-Holstein oder die Nord Stream 2 Grabungen im deutschen Hauptlaichgebiet Mecklenburg-Vorpommern. Dazu kommen die Anreicherung des Heringsfetts mit Schadstoffen wie Quecksilber und Blei sowie die Störung der Kommunikation der Fische durch eine verlärmte Ostsee. Auf diesen extrem schlechten Erhaltungszustand trifft nun mit aller Macht der Klimawandel. Braunalgen leiden unter der zunehmenden Versauerung und der Erwärmung des Meerwassers. Das Aussterben des Brotfisches nimmt dadurch weiter an Tempo zu. Das Thünen-Institut beobachtet die Laichtätigkeit des Herings im Greifswalder Bodden und im Meeresarm Strelasund seit 30 Jahren und fand heraus, dass die Tiere heute durch die Wärme im Schnitt 14 Tage früher laichen und die Larven sich dann auch noch schneller entwickeln. Sie benötigen dann dringend Zooplankton als Futter, das zu diesem frühen Zeitpunkt jedoch nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist, weil es sich nicht an der Wassertemperatur, sondern am Licht orientiert. In der Folge verhungern die Larven.
Die Hoffnung, die Population des Herings in der Ostsee noch retten zu können, liegt in den wenigen Tieren, die das Larvenstadium überlebt haben. Sie tragen offenbar bereits ein Gen in sich, das der Erwärmung trotzt. Damit die Rettung gelingt, müssen diese wichtigen Tiere so gut wie möglich geschützt werden, um die Population erneuern und wieder aufbauen zu können. Will die Politik diese vermutlich letzte Chance ergreifen, muss sie umgehend und radikal handeln.
DS 26. April 2022