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Jetzt Mitglied werden!Industrielle Lebensmittel mit Risiken behaftet
NABU sieht Zusammenhang zwischen Produktionsart und Sicherheit
Anfang 2011 hatte wieder einmal ein Lebensmittel-Skandal nicht nur die deutsche und europäische Landwirtschaftspolitik fest im Griff, auch die Verbraucher reagierten entsetzt: größere Mengen an mit Dioxinen belasteten industriellen Fettsäuren sind offensichtlich von der schleswig-holsteinischen Firma Harles & Jentzsch landwirtschaftlichen Futtermitteln beigemischt worden. Firmeneigene Untersuchungen des so erzeugten Futters zeigten Überschreitungen um zunächst das Doppelte des Grenzwertes von 0,75 Nanogramm, die Ergebnisse wurden aber von Harles & Jentzsch seit mindestens März 2010 zurückgehalten.
Nachträglich gezogene Proben zeigten Werte, die teilweise um das 77fache höher lagen, als gesetzlich erlaubt. In der Folge traten auch bei Hühnern und Schweinen, die mit diesen Futtermitteln gefüttert wurden, erhöhte Dioxin-Werte auf. Mehrere Staaten wie Großbritannien und Tschechien untersagten daraufhin die Importe von Nahrungsmitteln aus der Bundesrepublik.
Erst Ende Dezember 2010 gelangten die Vorgänge erstmals ans Licht der Öffentlichkeit. Die Selbstanzeige eines verarbeitenden Betriebes brachte den Stein ins Rollen. Eine große Zahl zumeist großer, landwirtschaftlicher Schweinemast-Betriebe sowie Legehennenbatterien wurde als Konsequenz vorübergehend gesperrt. Verseuchtes Fleisch und belastete Eier gelangten trotzdem in den Handel. Das Kieler Landwirtschaftsministerium erstattete Strafanzeige gegen den Uetersener Betrieb: bei vier Kontrollen in den letzten drei Jahren wurden den Mitarbeitern der Lebensmittelüberwachung wohl falsche, unbelastete Proben 'untergejubelt'.
Kritische Fragen
Nach BSE und Gammelfleisch, Nitrofen in Futtermitteln und Pestiziden in Gewürzen ein weiterer Skandal im Lebensmittelbereich. Erneut stellen sich dem Beobachter eine Reihe kritischer Fragen:
- Gibt es gegen eine 'massive kriminelle Energie', wie sie Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen entdeckte und die mit einem Schlag viele Landwirte in Existenznot brachte, keine geeigneten Mittel?
- Machen allein angedrohte höhere Strafen unsere Lebensmittel sicherer?
- Sind Verbraucher bei der Wahl ihrer Nahrungsmittel derartigen Machenschaften heute also hoffnungslos ausgeliefert und haben keine Alternativen?
- Liegt der Fehler nicht vielmehr in den gegen das Gemeinwohl gerichteten negativen Entwicklungen in der Landwirtschaft begründet?
- Ist es nicht scheinheilig, wenn der Präsident des Bauernverbandes einerseits postuliert, die Landwirtschaft sei 'unverschuldet' in Misskredit geraten, der Verband gleichzeitig aber massiver Begleiter und Förderer dieser Entwicklung ist?
- Müssen nicht behördliche Kontrollen in Zeiten knapper Mittel in diesem undurchdringlichen Geflecht unterschiedlicher Interessen zwangsläufig versagen?
- Sind nicht aber auch die Verbraucher gefordert, statt „billig“ einzukaufen mehr auf die „Qualität bei der Erzeugung“ zu achten?
Logische Folge von Fehlentwicklungen
Der NABU sieht vor allem die drastischen Fehlentwicklungen in der Landwirtschaft als wesentliche Ursache für die sich häufenden Skandale im Futter- und Lebensmittelbereich. Der Trend geht immer mehr hin zur industriellen Landwirtschaft mit einer arbeitsteiligen Futtermittel- und Fleischproduktion, die sich zunehmend vor allem an den Bedingungen für den Export von Lebensmitteln orientiert. Die Exportquote schleswig-holsteinischer landwirtschaftlicher Produkte beträgt nach Angaben des Bauernverbandes inzwischen rd. 30 Prozent. Seit 1998 sind danach die Agrarausfuhren um 90 Prozent gestiegen.
Undurchsichtige, der Kontrolle und Verantwortung der Kunden weitgehend entzogene Lieferwege, Verquickungen mit anderen Industriezweigen und ein gehöriges Maß an krimineller Energie sind der Cocktail, aus dem unter diesen Bedingungen immer wieder Skandale hervorgehen, die dem Endverbraucher den Appetit auf Industrieware weitgehend verderben.
Dioxine
Dioxine entstehen unvermeidlich als Nebenprodukte bei der Herstellung chlororganischer Chemikalien oder bei beliebigen Verbrennungen von Kohlenwasserstoffen in Anwesenheit von Chlorverbindungen (beispielsweise Kochsalz). In der Regel entstehen nachweisbare Konzentrationen von Dioxinen bei Verbrennungen mit Temperaturen oberhalb 300°C und unter 700°C. Dioxine entweichen aus Anlagen der Metallindustrie, aus Müllverbrennungsanlagen und privaten Kaminen in die Luft. Die illegale Abfallverbrennung im Kamin oder im Garten macht heute den bedeutendsten Anteil der Dioxinemissionen aus.
Als langlebige organische Schadstoffe werden sie in der Umwelt bei niedrigen Temperaturen kaum abgebaut. Spuren von polychlorierten Dioxinen und Furanen kommen überall auf der Welt vor. Über die Nahrungskette reichern sich Dioxine in lebenden Organismen an, bei Wirbeltieren vor allem in der Leber als dem Entgiftungsorgan der Stoffwechselkreisläufe.
Der Mensch nimmt Dioxine vor allem über tierische Nahrungsmittel (Fisch, Fleisch, Eier, Milchprodukte) auf. Ein wichtiger Indikator für die Belastung von Menschen ist die Konzentration in der Muttermilch. Polychlorierte Dioxine und Furane können bereits in geringen Mengen die Entstehung von Krebs aus vorgeschädigten Zellen fördern. (nach Wikipedia)
Massentierhaltung prägend
Eine wesentliche Ursache ist die Massentierhaltung, in deren Folge auch ein teils undurchsichtiges Netzwerk an Futterlieferanten für die Agro-Industrie aufgebaut wurde, dem viele Landwirte auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Kommt es in der Folge fast zwangsläufig zu Unregelmäßigkeiten bei den Lieferanten, sind davon aufgrund der Konzentration auf wenige Hersteller gleich tausende von Betrieben betroffen. Kriminelle Zulieferer sind oftmals kaum in Haftung zu nehmen - fliegt Fehlverhalten auf, so gehen die Futtermittelhersteller wie im Falle von Harles & Jentsch in die Insolvenz, entziehen sich also dem finanziellen Schadensausgleich.
Jeder Landwirt aber, der sich auf dieses Marktsystem einlässt, geht ein hohes Risiko ein - Massentierhaltung ist betriebswirtschaftlich ein Roulette-Spiel mit hohem Gewinnpotential, aber im Schadensfall auch mit der Gefahr des Totalverlustes.
Die Rolle des Bauernverbandes
Bekannt ist, dass der Bauernverband personell stark in das Geflecht von Futter-, Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft eingebunden ist. So stellte eine Studie des NABU und des Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) schon im Jahr 2001 heraus, welchen Nebenjobs so mancher Landwirtschaftslobbyist nachging. Dabei traten zahlreiche Verbindungen von Bauernverbandsvertretern mit Agrarindustrie, Versicherungs- und Bankenbusiness wie auch mit der Politik hervor.
Klar erkennbar wurde, weshalb die Funktionäre in diesem Geflecht oftmals gegen die Interessen der eigenen Klientel entscheiden. Es ist kaum zu erwarten, dass sich bis heute hieran viel geändert hat. So ist laut Internetdarstellung der niederländischen 'VION Food Group N.V.' aktuell der Vizepräsident des Deutschen Bauernverbandes und Präsident des Landesbauernverbandes Niedersachsen, Werner Hilse, auch im Aufsichtsrat diese Unternehmens tätig, das im Jahr 2003 - noch unter dem Namen 'Bestmeat' - die Hamburger CG Nordfleisch AG übernommen hatte. Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL) kritisiert schon seit Jahren, dass Werner Hilse auch durch seine unzähligen anderen Aufsichtsrats- und Vorstandsposten seiner Aufgabe, die Interessen der angeschlossenen Landwirte zu vertreten, nicht gerecht werden kann.
Anfang 2007 erstattete die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch Anzeige u.a. gegen das Unternehmen SNP der VION N.V.-Gruppe, da SNP illegalen Handel mit Tiermehl betrieben hatte (Foodwatch 2007). VION ist einer der größten Fleischvermarkter in der EU und direkter Konkurrent der deutschen Firma Tönnies, einem maßgeblichen Fleisch-Lieferanten von Lebensmitteldiscountern wie Aldi.
Im Aufsichtsrat der ehemaligen Nordfleisch AG war 2001 schon der heutige schleswig-holsteinische Ministerpräsident, Peter Harry Carstensen, tätig. Gleichzeitig nahm der ausgebildete Diplom-Agraringenieur Carstensen neben seinem Bundestagsmandat, das ihm auch den Vorsitz im Bundestagsausschuss für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft einbrachte, das Präsidentenamt in der Deutschen Gesellschaft für Agrar- und Umweltpolitik D.G.A.U. wahr. Letztere ist eher einem konventionell-industriellen Bild der Landwirtschaft verhaftet und Ausrichter der "Husumer Gespräche". Darüber hinaus war er in dieser Zeit auch Präsident des Deutschen Fischereiverbandes (DFV). Diese Tätigkeit brachte ihm den ‚Titel‘ 'Fischpolitischer Sprecher' der CDU ein. Gleichzeitig trat er auch als Vorstandsmitglied des 'Deutschen Instituts für reines Bier' auf.
Die Geister, die Du riefst ...
Allerdings wird der Bauernverband in Zukunft vielleicht die Geister der Industrialisierung, die er rief, nicht mehr los. Denn getreu dem Motto: "Wozu braucht man eigentlich noch selbständige Landwirte?" ist in Deutschland eine Entwicklung erkennbar, die schließlich auch den bereits heute unter einem steten Mitgliederschwund leidenden Bauernverband mehr und mehr seine gesellschaftliche Bedeutung nehmen könnte: In manchen Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern übernehmen immer mehr landwirtschaftsfremde Unternehmer und Investoren in Agro-Großbetrieben selbst das Ruder. Auch der Agro-Gas-Boom drängt mit den drastisch steigenden Pachtpreisen für Flächen traditionelle Landwirte mehr und mehr aus dem Markt. Der Ständevertretung der Industrie-Bauern droht auch von dieser Seite der Weg in die Bedeutungslosigkeit, wenn an die Stelle von Großbauern nun Industrie-Manager treten.
Landesregierung versäumt den Aufbau von Alternativen
Nach ökologischen Kriterien wirtschaftende Betriebe sind wegen der weitaus höheren Kontrolldichte, aber auch wegen der anderen Philosophie der Lebensmittelproduktion, die mehr auf Regionalität achtet und den Beschaffungsweg von Futterstoffen überschaubar hält, weitaus weniger von illegalen Machenschaften bedroht.
Die Landesregierung trägt dabei ihren Teil der Schuld an der Bedrohung unserer Gesundheit mit - und nicht nur wegen offensichtlich zu geringer Kontrolldichte an den eigentlich entscheidenden Schalthebeln der Lebensmittelkette: Hinzu kommt, dass die CDU-FDP-Fraktion im Landtag, auch auf Druck des Bauernverbandes hin, statt den Ausbau der ökologischen Landwirtschaft voranzutreiben und zu fördern, diesem durch die Streichung wichtiger unterstützender Maßnahmen zunehmend den Boden entzieht. Ab 2011 wird u.a. die Öko-Landbau-Prämie für Bio-Bauern im Rahmen der Haushaltskonsolidierung komplett gestrichen. Schon heute importiert das Land größere Mengen an Bio-Produkten, statt die Wertschöpfung in der Region vornehmen zu lassen.
Konsequenzen
Die Landesregierung muss alle Maßnahmen unterstützen, die dazu beitragen, dass Futtermittel wieder verstärkt auf den Vieh haltenden Betrieben erzeugt werden. Zudem sind regionale Verarbeitungs- und Vermarktungsstrukturen zu fördern. Gerade die Geflügelhaltung zeichnet sich durch agrarindustrielle Strukturen aus, die ihre Futtermittel auf überregionalen Märkten beziehen und die Tiere auf wenige Großanlagen konzentrieren.
Wege zur Umkehr
Forderungen an die Landwirtschaft gehen in die Richtung, die Tierhaltungs- und Futtermittelbranche verbraucher- und umweltfreundlicher zu gestalten. Hierzu gehören
- die volle Transparenz über die Herkunft des Tierfutters,
- die Verschärfung der Lebensmittelkontrollen,
- die EU-weite Einführung einer Positivliste für Futtermittel,
- die Umstellung der Fleischerzeugung auf eine regionale und betriebseigene Fütterung,
- die Förderung des ökologischen Landbaus.
Verbraucher haben die Wahl
Nicht zu vergessen ist dabei, dass das Verhalten der Verbraucher, nur wenig Geld für ihre Lebensmittel ausgeben zu wollen, den Weg der Massentierhaltung befördert hat. Als Alternative bleibt für den kritischen Verbraucher nur, Fleisch aus ökologischer Erzeugung zu bevorzugen. Vor dem Hintergrund des Skandals um Dioxin haltige Futtermittel hat der NABU ein Sonderprogramm zur Förderung einer regionalisierten Futtermittelerzeugung und zur Flächenbindung der Tierhaltung gefordert.
ILu 8. März 2011
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