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Grundlagen und Forderungen
Die Zahl der Weißwangengänse (auch als Nonnengänse bekannt) hat in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Registrierte man in den 70er Jahren noch einen Bestand der Barentsee (Nordrussland) - Population von unter 50.000 Tieren, so geht man derzeit auf der Basis von Zählungen von einer Herbst-Bestandsgröße von 1.3 Mio. Tieren im Nord-Ostsee-Bereich aus. Auch fast alle anderen Gänsearten haben einen vergleichbaren Bestandsanstieg vollzogen. Dabei handelt es sich um einen Erholung der Populationen auf die Verhältnisse im 19. Jahrhundert, nachdem Nonnen- und Ringelgänse in den 1950er Jahren fast ausgestorben wären. Die Population der ebenfalls im Wattenmeer vorkommenden Ringelgans hat seit 1995 erneut um rund 30% abgenommen, die der Weißwangengans ist seit 2015 im Bestand stabil.
Die Weißwangengans ist ein hocharktischer Brutvogel. Dennoch konnten sich in den letzten 40 Jahren in Deutschland auch einige Paare als Brutvögel ansiedeln. Diese gehen wahrscheinlich auf Jagdopfer und Gefangenschaftsflüchtlinge zurück. In der Bundesrepublik ist der Brutbestand der Nonnengans klein (rd. 800 Paare), er wird im Folgenden daher nicht betrachtet. Die meisten Nonnengänse brüten in Nordrussland und nutzen unsere norddeutschen Küsten und deichnahen Binnenlandplätze zur Rast und Überwinterung. Zur Nahrungsaufnahme sind sie sowohl auf den beweideten Salzwiesen außendeichs, als auch auf Grünland und Ackerflächen im Binnenland zu finden. Weitere große Überwinterungsgebiete der russisch-baltischen Population liegen in den Niederlanden und durch die immer milderen Winter bedingt auch in Dänemark. Auf dem Zug halten sich Nonnengänse auch an der Ostsee (Gotland) auf.
Eine hoch bedrohte Art kehrt zurück: Gründe
Die Bestände der Weißwangengans stiegen bis 2015 erfreulich an: Seit in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein vollständiges Jagdverbot verhängt wurde, konnten sich die Bestände erholen. Gleichzeitig profitierten sie von der Intensivierung der Landwirtschaft, die den Gänsen energiereiches Grünfutter während der Frühjahrsrast bietet. Einstmals verließen die Nonnengänse bereits im März das Wattenmeer, flogen in den Ostseeraum und dann nach dreiwöchiger Rast weiter in die Arktis. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gingen wichtige landwirtschaftliche Flächen im Baltikum für die Gänse verloren. Gleichzeitig benötigte die anwachsende Population aber mehr Nahrung für den Weiterzug. In der Folge mussten die Gänse ihre Zugstrategie ändern. Nonnengänse verbleiben immer länger im Wattenmeerbereich, um Fettdepots anzulegen, die ihnen nun den non-stop-Flug in die Arktis ermöglichen. Dafür benötigen sie mehr Zeit. Sie bleiben daher länger bei uns. Im Zuge der Erholung der Nonnengans-Population kommt es insbesondere zu Konflikten mit der Landwirtschaft, die große Schäden durch Nonnengänse (und andere Gänsearten) auf Grün- und Ackerland reklamieren.
Forderungen nach 'Management'
Daher wird ein 'Management' (Bejagung) dieser Art gefordert. Als Ziel wird dabei v.a. von Jagd- und Landwirtschaftsseite benannt, den Bestand der Nonnengans drastisch zu reduzieren, während aus den Reihen des Naturschutzes zur Reduzierung der Schäden in der Landwirtschaft eher eine Teilung der von Gänsen potenziell genutzten Flächen in Duldungs- und Vertreibungsgebiete ("Go- und NoGo-Areas") präferiert wird. In den "Go-Areas" erhalten Landwirte, die die Gänse im Gegenzug dulden, Ausgleichsgelder.
Der NABU stellt im Folgenden die Argumente und den wissenschaftlichen Hintergrund dar. Er lehnt einen jagdlichen Eingriff in die Bestände der EU-rechtlich geschützten Art ab. Für das Erreichen des Ziels, den Bestand drastisch zu reduzieren, wären massive jagdliche Eingriffe in der gesamten Zeit ihrer Anwesenheit fast rund um die Uhr notwendig, und ein Erfolg bleibt zweifelhaft. Der sensibilisierten Öffentlichkeit mit vielen Touristen im Nationalpark Wattenmeer wäre ein derartiges Gemetzel nicht vermittelbar. Die notgedrungen flächigen Störungen auch anderer Arten würden andere Naturschutzziele wie die Sicherung der Aufenthalts- und Brutstätten von Wiesenvögeln konterkarieren und wären schon aus diesem Grunde nicht zu tolerieren.
Rechtlicher Schutz
Keine Jagd möglich
Die Nonnengans wird durch geltendes Recht wie die EU-Vogelschutzrichtlinie (EU VS-RL) und das Abkommen zur Erhaltung der afrikanisch-eurasischen wandernden Wasservögel (Agreement on the Conservation of African-Eurasian Migratory Waterbirds AEWA) geschützt. Für die Frage nach Populationseingriffen durch die Jagd rechtlich relevant ist, dass die Nonnengans als Anhang I-Art der EU VS-RL nicht regulär bejagt werden darf. Für diese Arten gilt, dass sie ausnahmsweise nur lokal (!) bejagt werden dürfen, wenn eine Ausnahmegenehmigungen nach Art. 9 der EU VS-RL in Verbindung mit dem geltenden Gesetzen wie dem Bundesnaturschutzgesetz erteilt wird. Diese kann nur dann erteilt werden, wenn es nachweislich keine anderen, den Schaden abwendende Maßnahmen gibt, um ein lokal bestehendes (!) Problem zu lösen.
Die European Goose Management Plattform (EGMP)
Im Mai 2016 wurde die European Goose Management Plattform EGMP als Teil des AEWA-Abkommens gegründet. Das Ziel ist nach eigenen Angaben, "to provide the mechanism for a structured, coordinated and inclusive decision-making and implementation process for the sustainable use and management of goose populations in Europe, with the objective of maintaining them at a favourable conservation status, while taking into account concerns of relevant stakeholders and the pertinent legislative frameworks and regulations." Anlass war, dass die Bestandszahlen verschiedener Gänsearten seit den 70er Jahren auch aufgrund sehr erfolgreicher Schutzmaßnahmen anstiegen. Die Möglichkeit einer Bestandsreduktion lässt sich aber aus der Arbeit der EGMP nicht ableiten (s. Schreiben BMU vom 25. September 2020).
Kein Reduzierungsanspruch (Stellungnahme des BMU)
Auf Bitten des NABU Schleswig-Holstein hat das Bundesumweltministerium BMU Stellung genommen zu der Anfrage, wie die von Seiten des Landes Schleswig-Holstein gestellte Frage der Bewertung der Bestandssituation der Nonnengans an die EU-Kommission vor dem Hintergrund des Adaptive Flyway Management Programms („AFMP“) und der Favourable Reference Population („FRP“) zu beantworten ist, aus der heraus die Möglichkeit einer Reduktion des Nonnengans-Bestandes gesehen wird. Der NABU dokumentiert die Antwort des BMU vom 25. September 2020:
"(...) Im Rahmen des Afrikanisch-Eurasischen Wasservogelübereinkommens („AEWA“) wurde die sog. European Goose Management Plattform („EGMP“) gegründet. An dieser sind neben Deutschland weitere AEWA-Unterzeichnerstaaten beteiligt, die in den Zugrouten (Flyways) der nordischen Gänsearten und der Graugans beteiligt sind. Innerhalb der EGMP wurde ein Managementplan für die Weißwangengans (=Nonnengans) erarbeitet und zuletzt (im Juni 2020) ein sog. Adaptive Flyway Management Programme („AFMP“) beschlossen, welches die Managementansätze des Aktionsplans für den jeweiligen Flyway konkretisieren soll. Teil dieses AFMP sind Modellrechnungen auf der Basis von verschiedenen Referenzwerten (Favourable Reference Values), darunter die Favourable Reference Population („FRP“). Diese Referenzwerte dienen (analog z. B. zur FFH Richtlinie) dazu abzuschätzen, ab wann kein günstiger Erhaltungszustand der Art mehr gegeben ist und Artenschutzmaßnahmen ergriffen werden müssen. Für die Nonnengangs liegt der theoretische FRP-Wert bei 380.000 Tieren und bezieht sich auf neun Staaten, die den Flyway der russisch/deutschen und niederländischen Population der Weißwangengans bilden (u. a. Russland, Dänemark, Norwegen, Niederlande, Deutschland).
Aufgabe des AFMP ist es nicht, die Nonnengangspopulation auf einem bestimmten Niveau zu halten, sondern zu verhindern, dass die Bestände unter den FRP-Wert fallen. Der FRP-Wert stellt somit keine Zielgröße für die Bestände dar. Dies ist im AFMP ausdrücklich formuliert. Der FRP-Wert kann ausschließlich im Rahmen des Bestandsgrößenmodells innerhalb des AFMP separat von anderen Referenzwerten für Verbreitung, Lebensraum und Zukunftsaussichten bewertet werden. Weder AFMP noch FRP-Wert ermächtigen aus sich heraus zur Reduzierung der Bestände. Entnahmen der Weißwangengans dürfen nur ausnahmsweise unter Einhaltung der rechtlichen Voraussetzungen des Art. 9 VS-RL erfolgen. Die Prüfung und etwaige Erteilung von solchen Ausnahmen fällt hierbei in die ausschließliche Zuständigkeit der Bundesländer.
Zur Sicherstellung, dass die Populationsgröße nicht unter den FRP-Wert fällt, sieht das AFMP eine Sicherheitsschwelle von 200 % des FRP-Werts vor. Sollte der Flyway-Bestand unter diesen Wert fallen, regelt das AFMP, dass alle Entnahmen zwischen diversen Vertragsstaaten koordiniert werden müssen. Deutschland gehört mit den Niederlanden zur selben Managementeinheit und die Population dieser Einheit liegt derzeit mit 163 % des FRP-Wertes unterhalb der o. g. Sicherheitsschwelle von 200 %. Folglich müssen etwaige Ausnahmegenehmigungen zur Entnahme nicht nur Art. 9 VS-RL beachten. Daneben müssen solche Entnahmen auch u. a. mit Dänemark, Finnland, Schweden und den Niederlanden koordiniert werden. Diese Koordinierung zwischen den Staaten entlang des Flyway ist das vornehmliche Ziel des AFMP. (...)"
Go- und NoGo-Areas
Die Ausweisung von "Go- und NoGo-Areas" wird von vielen Naturschützern als favorisierte Lösung angesehen. Dabei werden bestimmte Gebiete ausgewiesen, in denen die Gänse auf attraktiven und für sie hergerichteten Flächen (am besten nasses oder feuchtes Grünland) ungestört fressen dürfen ("Go-Areas"), und andere vor allem intensiv landwirtschaftlich genutze Gebiete wie Ackerflächen bestimmt, aus denen die Gänse vertrieben werden dürfen, ohne sie zu töten ("NoGo-Areas"). Wichtig ist, dass die Duldungsgebiete auch ausreichend dimensioniert sein müssen, um die Lebensbedürfnisse in allen Jahren und Jahreszeiten zu decken.
Störungen vergrößern den Schaden
Ein Hintergrund für die Schaffung von Ruhezonen ("Go-Areas") für Gänse ist, dass der Energiebedarf der Gänse (und damit die Menge der aufgenommenen Nahrung auf den Nutzflächen) massiv ansteigt, wenn sie häufig vertrieben werden und viel auffliegen müssen. Gänse lernen schnell, wo sie ungestört sind. Sind diese groß genug, verbleiben sie dort und nehmen - im Verhältnis zu dauernd gestörten und damit immer wieder herumfliegenden, Energie verbrauchenden Tieren - weniger Nahrung auf. Diese Reduktion von Störungen muss alle wichtigen Faktoren umfassen: Landwirtschaft, Flug-, Straßen- und Bootsverkehr, Tourismus und Windenergie. Nur dann Profitieren alle Seiten davon: Gänse, Landwirte und sogar bedrohte Wiesenvögel wie Kiebitz, Uferschnepfe und Brachvogel.
Experten sind sich einig, dass ein solches Konzept auf lokaler Ebene sehr gut funktionieren kann, wenn die Flächen o. g. Kriterien erfüllen. Es werden auch Bedenken geäußert: Es erfordert unter Umständen trotzdem einen hohen Vergrämungsaufwand, die NoGo-Gebiete von Gänsen frei zu halten. Dies gilt sicher dann, wenn die Go-Gebiete nicht attraktiv genug oder zu klein sind. Dabei würden dann auch Arten wie Kiebitze, Lerchen und andere bedrohte Wiesenvögel methodenbedingt und notgedrungen mit verscheucht, die auf diesen Flächen ohne Auswirkungen auf die Landbewirtschaftung rasten und Nahrung suchen. Da die NoGo-Gebiete allerdings vor allem Ackerflächen sein sollten, wären die Wiesenbrüter von den Vergrämungsmaßnahmen kaum betroffen, wie wenn auch Grünland zu NoGo-Gebieten zählen würden.
Die Go-Gebiete müssten zudem für Gänse sehr attraktiv und weitgehend störungsfrei sein, damit sie auch angeflogen und genutzt werden. Bei den Nonnengänsen sollten die bestehenden Nahrungsgründe als Go-Gebiete ausgewiesen werden. In Schleswig-Holstein betrifft dies vor allem das westliche Eiderstedt, Pellworm und Föhr. Diese Flächen sollten durch den Wasseranstau, Einrichtung von Blenken und Flachgewässer optimiert werden. Abzulehnen ist hingegen das spezielle Ansähen besonders präferierter Nahrung in den Go-Areas, da es dann dort zu einem ungewollten Anfütterungseffekt kommt.
Die Situation der Nonnengans
Schleswig-Holstein und Niedersachsen
Schleswig-Holstein
Das Umwelt- und Landwirtschaftsministerium (MELUND) in Kiel hat für die Nonnengans eine Jagdzeit ausgewiesen. Danach darf die Jagd vom 1. Oktober bis 15. Januar mit der Maßgabe, dass die Jagd nur zur Vergrämung und lediglich in den Kreisen Nordfriesland, Dithmarschen, Pinneberg und Steinburg außerhalb von europäischen Vogelschutzgebieten und nur zur Schadensabwehr auf gefährdeten Acker- und Grünlandkulturen durchgeführt werden; die Notwendigkeit zur Abwehr erheblicher Schäden auf Grünlandkulturen muss zuvor durch einen anerkannten Sachverständigen festgestellt worden sein (Landesverordnung über jagdbare Tierarten und über die Jagdzeiten vom 6. März 2019). Diese Regelung widerspricht dem EU-Recht.
Im AK Gänsemanagement des MELUND wird unter Beteiligung der Naturschutzverbände wie von Landwirtschaftsvertretern seit Jahren über die Umsetzung eines Go- und NoGo-Managements diskutiert. Derzeit ist offen, ob es zu einer gemeinsam getragenen Lösung kommen wird, da die Landwirtschaftsvertreter ein Gebietsmanagement mit unterschiedlichen Kulissen ablehnen und mit politischer Unterstützung besonders der CDU stark auf eine Bestandsreduktion der Nonnengans drängen.
Niedersachsen
In Niedersachsen ist die Landesregierung seit 2000 einen anderen Weg gegangen. In den wichtigen Rastgebieten der arktischen Wildgänse können Landwirte sogenannte Gänseschutzverträge mit dem Land abschließen, wenn die Flächen in ausgewählten Natura 2000-Flächen liegen. Laut den Verträgen müssen die Landwirte definierte Leistungen für den Gänseschutz erbringen und bekommen dafür eine vereinbarte Summe Geld, unabhängig davon, ob wirklich Gänse die Flächen besucht haben.
ILU, 29. November 2020