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Forderungen von Landesnaturschutzbeauftragtem und NABU
Pressemitteilung vom 1. Oktober 2021
Landesnaturschutzbeauftragter und NABU fordern Sofortmaßnahmen gegen das Insektensterben auf Landwirtschaftsflächen
Eine der größten Herausforderungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes ist es, den Rückgang der Artenvielfalt zu stoppen. Besonders alarmierend ist der Verlust an Insekten vor allem in der Agrarlandschaft.
Neumünster, 1. Oktober 2021 - Das Insektenschutzgesetz des Bundes, die Biodiversitätsstrategie sowie entsprechende Förderrichtlinien des Landes, aber auch Förderprogramme der EU bis hin zu Überlegungen einer Neuausrichtung der europäischen Agrarpolitik sind Versuche, sich der Problematik des Insektenrückgangs umwelt- und agrarpolitisch anzunehmen. Hierbei verkürzen sich Diskussionen und Maßnahmen jedoch oft auf zu allgemein gehaltene Regelungen. Konkrete, unmittelbar umsetzungsbezogene Vorschläge, mit denen dem 'Insektensterben' gerade in der nach allgemeinen Grundsätzen bewirtschafteten Agrarlandschaft wirkungsvoll auf breiter Ebene begegnet werden kann, die aber auch in den Landwirtschaftsbetrieben unkompliziert anwendbar sind, bleiben zumeist unterrepräsentiert. Die vielfach propagierten hübsch-bunten, aber fast immer aus nichtheimischen Pflanzen bestehenden Blühmischungen reichen bei weitem nicht aus. Es muss viel mehr geschehen - und zwar schnell!
Um die Diskussion mit konkreten Maßnahmenvorschlägen anzureichern, haben der NABU Schleswig-Holstein und der Landesnaturschutzbeauftragte Prof. Dr. Holger Gerth gemeinsam ein entsprechendes Konzept erarbeitet (s.u). Dieses dient auch der Konkretisierung und Umsetzung der sehr allgemein gefassten Beschlüsse der Zukunftskommissionen Landwirtschaft ZKL auf Bundes- und Landesebene. Es handelt sich dabei um ein 'Erste-Hilfe-Paket', mit dem sich nach Ansicht von NABU und Landesnaturschutzbeauftragtem die enormen Bestandsrückgänge auch bei unlängst noch als häufig angesehenen Insektenarten der Agrarlandschaft zumindest abbremsen lassen. Für eine dauerhafte Trendumkehr sind jedoch weiterreichende Maßnahmen erforderlich.
Kontakt
Fritz Heydemann
Fritz.Heydemann@NABU-SH.de
Tel. 04522-2638
Prof. Dr. Holger Gerth
Sofortmaßnahmen Insektensterben
Die Forderungen von Landesnaturschutzbeauftragtem und NABU
Der Rückgang an Insekten, sowohl die Arten- als auch die Individuenzahl betreffend, ist dramatisch. Dafür gibt es mehrere Gründe; hauptsächlicher Verursacher ist die konventionelle Landwirtschaft: Zum einen ist die Insektenfauna auf den Agrarflächen infolge von Intensivierungsmaßnahmen bei der Feldbewirtschaftung innerhalb der letzten Jahrzehnte drastisch reduziert worden, zum anderen nimmt die Landwirtschaft in einem Flächenland wie Schleswig-Holstein von allen Nutzungsformen den mit Abstand größten Flächenanteil ein.
I. Situation
Spätestens seit den Untersuchungen des Entomologischen Vereins Krefeld und anderen entsprechenden Studien ist das 'Insektensterben' als Synonym für die rasant zunehmenden Biodiversitätsverluste ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit gedrungen und prägt neben der Gewässer- und Grundwasserbelastung durch Überdüngung und dem Tierwohl zum großen Teil die derzeitige Diskussion um die Landwirtschaft in Deutschland und Europa, insbesondere in ihrem Verhältnis zu Natur und Umwelt. Ausdruck des Unwillens, das Insektensterben und die diesbezügliche Rolle der Landwirtschaft weiter hinzunehmen, ist beispielsweise der Erfolg des bayrischen Volksbegehrens. Auch in Schleswig-Holstein werden die Stimmen, die eine umweltbezogene Reform der Landwirtschaft verlangen, deutlich intensiver.
Bis dahin wird sich das Insektensterben jedoch ungehindert fortsetzen. Das von der EU beschlossene, sogenannte 'Greening', d.h. die Verpflichtung der Landwirtschaft zum Erhalt und zur Entwicklung 'ökologischer Vorrangflächen', ist politisch verwässert worden und hat die Biodiversitätsverluste nicht spürbar aufhalten können. Wissenschaftler wie Prof. Dr. Tim Diekötter vom Institut für Natur- und Ressourcenschutz der CAU Kiel gehen davon aus, dass der Anteil an ökologischen Vorrangflächen auf 10 bis 15 % der landwirtschaftlichen Betriebsfläche steigen müsse, um dem Biodiversitätserhalt wirklich förderlich sein zu können.
Um das Insektensterben zumindest zu verlangsamen, müssen als 'Notfallpaket' dringend erste Maßnahmen auf den Agrarflächen erfolgen. Ein unter Gesichtspunkten des praktizierten Insektenschutzes wichtiger und zugleich ohne das Erfordernis erheblicher Umstrukturierungen in der einzelbetrieblichen Wirtschaftsweise machbarer Schritt ist, einen in der Relation zur gesamten Wirtschaftsfläche kleinen Anteil aus der Nutzung herauszunehmen.
Der NABU Schleswig-Holstein und der Landesnaturschutzbeauftragte Prof. Dr. Holger Gerth haben dafür einen Vorschlag an konkreten Maßnahmen erarbeitet.
II. Grundsätzliche Überlegungen
- 1. Dieses Forderungsprogramm enthält lediglich dringlich umzusetzende 'Notmaßnahmen', mit denen der dramatische Rückgang an Insektenarten und -individuen in der Agrarlandschaft wenigstens verlangsamt werden kann. Um die Vorgabe der Nationalen Biodiversitätsstrategie zum Stopp des Artenrückgangs zu erfüllen, reichen diese Maßnahmen jedoch bei weitem nicht aus.
- 2. An Maßnahmen ist hauptsächlich die Anlage von ein- und mehrjährigen selbstbegrünten Brachen im Verbund mit vorhandenen naturnahen Strukturen zur Bereicherung von Ackerlebensräumen erforderlich. Diese ermöglichen die Entwicklung zahlreicher Wildpflanzenarten als Insektennahrungspflanzen. Die derzeit gängige Praxis der Einsaat von Blühstreifen mit einjährigen, nichtheimischen Arten kann zwar als erster Schritt gesehen werden, hat jedoch nur einen relativ geringen positiven Einfluss auf die Insektenfauna, da die meisten Blühstreifen vor allem Blüten besuchenden Insekten und dabei hauptsächlich häufigen und nur wenig spezialisierten Arten dienen. Damit kommen Blühstreifen nur einem stark eingeschränkten Artenspektrum entgegen.
- 3. Von den hier vorgeschlagenen Maßnahmen profitieren neben Insekten etliche andere Tiergruppen wie die ebenfalls stark rückläufigen Vogelarten der Agrarlandschaft sowie die einheimische Flora der Äcker, Wiesen und Säume.
- 4. Das Programm soll breitflächig wirken und muss dafür die gesamte Landwirtschaftskulisse flächig und anteilig betreffen, anstatt auf bestimmte Räume fixiert zu werden. Es bezieht sich hauptsächlich auf die 'normale' Agrarlandschaft, weniger auf landwirtschaftliche Sonderstandorte wie Feuchtniederungen oder Magergrünland.
- 5. Die Maßnahmen sollten von allen landwirtschaftlichen Betrieben ohne besondere ökologische oder landschaftspflegerische Vorkenntnisse umgesetzt werden können. Sie sind daher bzgl. der verschiedenen Agrarlebensraumtypen nur sehr grob differenziert worden. Zudem beziehen sie sich weitgehend auf das Unterlassen von Nutzungen. Die darüber hinaus enthaltenen landschaftspflegerischen Maßnahmen sind so gewählt, dass sie einfach zu erbringen sind.
- 6. Die Maßnahmen sollen die zur Förderung des Naturschutzes in der Agrarlandschaft vorhandenen Programme ergänzen, keinesfalls ersetzen. Das gilt sowohl hinsichtlich freiwilliger Leistungsangebote (z. B. Umweltmaßnahmen im Agrarbereich, geförderte Gewässerrandstreifen) als auch für bestehende Verpflichtungen (z.B. Ökologische Vorrangflächen gemäß Greening, verpflichtende Gewässerrandstreifen).
- 7. Die Forderungen beziehen sich in erster Linie auf die konventionelle Landwirtschaft und hierbei auf den Ackerbau (einschließlich Feldgras), da von diesem der größte negative Einfluss auf die Insektenfauna ausgeht. Auch für Dauergrünland sind (in einem geringeren Anteil) Maßnahmen der Lebensraumverbesserung für Insekten und andere Organismen vorzusehen. Selbst manche Betriebe des Ökologischen Landbaus weisen bezüglich des Biodiversitätsschutzes bestimmte Defizite auf (z.B. geringe Dichte an Kleingewässern und Feldgehölzen) und sollten auf Grundlage einer betriebsbezogenen Analyse entsprechender naturnaher Strukturen gegebenenfalls mit herangezogen werden.
- 8. Die Maßnahmen greifen nicht flächendeckend in die praktizierte Bewirtschaftung ein, sondern beziehen sich auf bestimmte kleinere Flächenanteile von maximal 8 % (konventioneller Ackerbau) der Bewirtschaftungsfläche (Nettofläche). Die Maßnahmenstandorte sollen grundsätzlich von den Landwirten selbst bestimmt werden. Damit kann unter anderem ausgeschlossen werden, dass sie gravierende Hindernisse für die Bewirtschaftung der betroffenen Schläge bilden. Es sollten jedoch bestimmte ökologische Kriterien wie Anbindung an vorhandene naturnahe Strukturen (z.B. Knicks, Grabenränder) und sonnenexponierte Lagen beachtet werden.
- 9. Die Maßnahmen beruhen hauptsächlich auf einem Nutzungsverzicht (Stilllegung) oder einer Nutzungsextensivierung vorher bewirtschafteter Flächen. Zudem wird die Neuanlage naturnaher Landschaftselemente in das Programm aufgenommen. Dabei sollte die Anlage von Kleingewässern und vernässten Senken im Vordergrund stehen, da beide Landschaftselementtypen stark defizitär in der Agrarlandschaft vertreten sind. Deren Grundfläche sollte mit dem Faktor 5 gewertet werden (d.h. 100 qm dauerhaft angelegten Feuchtgebiets entsprechen 500 qm an zeitweiligen Maßnahmen), die der um diese angelegten Saumstreifen um den Faktor 2.
- 10. Die Finanzierung der Maßnahmen (Ausgleich der Produktionsverluste) kann in diesem Papier nur angerissen werden. Angeregt wird, die Einkommensverluste kurzfristig (d.h. ab 2021) über eine Umschichtung der EU-Agrarbeihilfe von der 1. Säule zur 2. Säule auszugleichen. Daraus würde sich eine leichte Reduzierung der Direktzahlungen (Flächenprämie) ergeben. Mittelfristig sollten die Maßnahmen aus der 1. Säule über die dortige Einbindung ökologischer Gewichtungen ('Gemeinwohlprämie') finanziert werden. Die Finanzierung der Neuanlage dauerhaft zu erhaltender Landschaftselemente sollte ebenfalls aus öffentlichen Mitteln erfolgen.
- 11. Da dieses Programm nur als 'Erste Hilfe' vor allem gegen das Insektensterben zu verstehen ist, nicht aber weitergehende Defizite im Artenschutz sowie anderen Umweltfaktoren wie beispielsweise beim Grundwasserschutz beheben kann, halten die Initiatoren nach wie vor diesbezüglich deutlich weiterreichende Veränderungen in der Landbewirtschaftung für erforderlich. Der grundlegende Umbau der EU-Agrarförderung - weg von der überwiegend flächenbezogenen Subvention, hin zur klar auf ökologische Leistungen ausgerichteten Förderung (Gemeinwohlprämie) - würde dafür eine Basis bilden, ist aber nicht Inhalt dieses Papiers.
- 12. Diese Forderung nach Sofortmaßnahmen richtet sich an die Landwirtschaft und die Landwirtschaftspolitik. Dabei wird jedoch nicht verkannt, dass auch andere Akteure mit ihrem Grundbesitz in der Verantwortung stehen, auf ihren Flächen endlich effektive Maßnahmen gegen das Insektensterben einzuleiten. Hier seien zuvorderst, nicht zuletzt auch im Hinblick auf ihre Vorbildfunktion, die öffentliche Hand und die Kirche genannt. Zudem sollten sich auch die privaten Grundeigentümer, so die Gartenbesitzer, in der Pflicht sehen.
III. Maßnahmen
(1) Maßnahmen für Äcker (konventionell bewirtschaftet, einschließlich Silograsflächen mit mehrjähriger Nutzung)
Anteil von 8 % der Nettofläche
a) als Brache (d.h. Selbstbegrünung)
• flächige Stilllegung
• Saumstreifen von mind. 3 m Breite an Knicks, Wald- und Feldgehölzrändern, Gewässerrändern, Wegen etc.
• bevorzugt südexponiert
• langfristige Stilllegung oder Rotationsbrache (Rotationsintervall ab 2 Jahre)
b) als mit Getreide bestellter Ackerrandstreifen von mind. 5 m Breite, ohne Düngung und PSM-Einsatz, weiter Drillabstand
c) als 'Blühstreifen aus standortheimischen Arten (Regiosaat mit hohem Staudenanteil) von mind. 3 m Breite und mind. 5 Jahren
(2) Maßnahmen für Dauergrünland (ab 5 ha Gesamtgrünland im Betrieb, konventionell bewirtschaftet, Umbruch zur Neueinsaat möglich, Mahd und / oder Weide)
Anteil von 4 % der Nettofläche
a) als Extensivgrünland
• keine Düngung, keine Pflanzenbehandlungsmittel
• kein Umbruch oder Fräsen, keine flächige Neueinsaat
• keine flächige Zerstörung der Grasnarbe durch Überbeweidung
• kein Walzen und Schleppen nach dem 31. März
• keine Mahd vor dem 1. Juli
• flächig oder als Saumstreifen (mind. 5 m Breite, an naturnahen Strukturen)
b) als Brache
• flächig oder als Saumstreifen (mind. 5 m Breite, an naturnahen Strukturen)
• langfristige Stilllegung
• zeitweilige Stilllegung (mind. 3 Jahre)
(3) Maßnahmen für Dauerweiden (ab 5 ha Gesamtgrünland im Betrieb, konventionell bewirtschaftet, kein Umbruch / Fräsen / Neueinsaat, max. 1 Mahd)
Anteil von 2 % der Nettofläche
Maßnahmen siehe Dauergrünland
(4) Maßnahmen für den Ökologischen Landbau (ab 10 ha Betriebsgröße)
Anteil von 1 % der Nettofläche:
a) Ackerbau: Saumstreifen im Getreide mit Verzicht auf mechanische Unkrautbekämpfung (mind. 3 m Breite)
b) bei Unterschreitung einer bestimmten Dichte an naturnahen Landschaftselementen (z.B. Knicklänge < 80 m / ha):
• Anlage von Kleingewässern, Knicks und Feldgehölzen, Vernässung von Senken
• Anlage von Feldrainen (mind. 2 m Breite, Selbstbegrünung)
(5) Maßnahme: Neuanlage naturnahe Landschaftselemente
Die Fläche neu angelegter Kleingewässer und nasser Senken wird mit dem Faktor 5 berechnet, die Fläche der um diese entwickelten Saumstreifen um den Faktor 2
a) Kleingewässer (prioritär)
• besonnte Lage
• Saumstreifen von mind. 5 m Breite im Grünland gem. III. 2. und 3., ohne Düngung und PSM-Einsatz
• Saumstreifen von mind. 8 m Breite im Acker gem. III.1., ohne Düngung und PSM-Einsatz, Einsaat einer Gras-Regiosaatmischung möglich
b) Wiedervernässung von Senken (prioritär)
• Saumstreifen, siehe III.5.a)
c) Knicks
• Saumstreifen von mind. 3 m (bei Doppelknick zur Wegseite 1,5 m), Einsaat einer Gras-Regiosaatmischung möglich
(6) Maßnahme: Gewässerrandstreifen an Still- und Fließgewässern sowie an als Vorflutern relevanten Gräben am Fuß hängiger Ackerflächen (sofern kein ausreichender Pufferstreifen vorhanden)
• mind. 10 m Breite
• Einsaat einer Extensivgrasmischung, ohne Düngung und PSM-Einsatz
• Mahd einmal jährlich, Beseitigung des Mähguts (Nutzung)
Autoren
Prof. Dr. Holger Gerth
Landesnaturschutzbeauftragter
Fritz Heydemann
Stellv. NABU Landesvorsitzender
28. Juli 2021