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Realismus statt Illusion – Überlegungen zu einem Konzept
Sollen dem Naturschutz gewidmete Flächen gezielt gepflegt werden, weil deren Lebensgemeinschaften fast alle durch kulturhistorische Nutzungseinflüsse geprägt sind? Oder sollte man sich doch lieber heraushalten, weil die Natur sich selbst am besten steuern kann und uns die mit der Landschaftspflege permanent verbundenen Maßnahmen künftig ohnehin personell und finanziell überfordern dürften und wir die ins Auge gefassten Ziele doch nicht werden erreichen können? Ob im Eigentum des Naturschutzes befindliche Flächen der Landschaftspflege unterliegen sollten, um durch gezielte Maßnahmen des Biotopmanagements die Erhaltung bestimmter Lebensgemeinschaften, manchmal auch einzelner Arten, zu gewähren (oder deren Erhalt zumindest zu versuchen) – oder ob sie nicht doch eher ihrer eigenständigen Entwicklung und damit auf Dauer der Selbststeuerung überlassen werden sollten, ist eine seit langem geführte Diskussion, die im Naturschutz schon manches Mal zu regelrechten „Glaubenskriegen“ geführt hat.
Wildnis – Möglichkeiten und Grenzen
Während sich der Umgang mit Naturschutzflächen bis in die 1980er Jahre stark auf gezielte Maßnahmen wie Mahd, extensive Beweidung, Entbuschung und Anlage von Biotopen stützte, rückte anschließend die Überzeugung, Flächen der Sukzession zu überlassen, in den Vordergrund. Dazu trug die Erkenntnis bei, dass viele der häufig sehr aufwändigen Biotopgestaltungs- und Biotoppflegemaßnahmen nicht die gewünschten Effekte bewirkt hatten. Überdies wurde der Schutz natürlicher, letztlich zur Waldbildung führender Prozesse zu einem Wert an sich. Eine Art Gegenbewegung setzte in den 1990er Jahren mit der Idee der halboffenen Weidelandschaft ein, mit der beide Ansprüche des Naturschutzes – weitgehende Offenhaltung der Landschaft und Eigendynamik der Natur – verwirklicht werden sollten. Gerade in Schleswig-Holstein haben sich seitdem vielerorts auf dem Naturschutz übereigneten Agrarflächen halboffene Weidelandschaften in unterschiedlicher Dimension etabliert.
Dennoch hat sich bald die Frage gestellt, ob sich Natur nicht auch mal gänzlich unbeeinflusst von menschlichen Einflüssen entwickeln sollte. Beflügelt wurden diese Überlegungen durch die nach der Wende im Osten Deutschlands auf einmal dem Naturschutz zur Verfügung stehenden großflächig aufgelassenen Tagebaue und Truppenübungsplätze. Geradezu mit Begeisterung verfolgten Naturschützer, wie schnell sich die Natur solche von Menschenhand erodierte Gebiete zurückzuerobern vermochte. Zudem forderte der Naturschutz mit zunehmender Vehemenz, endlich ein Netz an Naturwaldflächen zu schaffen, wo doch das Artenspektrum der wenigen bis dahin nutzungsfreien Waldstückchen Biologen immer wieder aufs Neue überraschte. Im Zuge dessen wurde die sperrigen Begriffe „Sukzession“ beziehungsweise „Prozessschutz“ von der ansprechenderen, Sehnsüchte weckenden Formulierung „Wildnis“ abgelöst. Die mit diesem öffentlichkeitswirksamen Begriff verbundenen Assoziationen von Großflächigkeit und Ursprünglichkeit können in einem dicht besiedelten und kleinteilig strukturierten Land wie Schleswig-Holstein nur selten ihre Entsprechung finden, weshalb aus naturschutzfachlicher Sicht die neutrale Bezeichnung „Sukzession“ sinnvoller wäre.
Um den fortschreitenden Rückgang von Tier- und Pflanzenarten zu stoppen, beschloss die Bundesregierung 2007 die Nationale Biodiversitätsstrategie. Sie enthält neben vielen allgemeinen Verlautbarungen auch konkrete Flächenschutzziele und -maßnahmen. Darunter fällt die Ausweisung von sogenannten Wildnisgebieten, die zwei Prozent der Fläche Deutschlands einnehmen sollen. Da die Umsetzung von Naturschutzmaßnahmen der Kompetenz der Bundesländer obliegt, will Schleswig-Holstein die Zwei-Prozent-Vorgabe folgerichtig in die anstehende Novelle des Landesnaturschutzgesetzes aufnehmen. Denn auch hierzulande hat man erkannt, dass sich Natur nicht nur im Wattenmeer frei entwickeln sollte, sondern auch in einer kleinräumigen, weit überwiegend agrarisch geprägten Kulturlandschaft eigendynamische Prozesse ihren Platz bekommen müssten.
Der NABU Schleswig-Holstein begrüßt diese Zielsetzung ausdrücklich. Allerdings darf sich der Naturschutz jetzt nicht wieder unreflektiert einem neuen ‚Mainstream‘ hingeben. Denn Wildnisentwicklung beziehungsweise -erhalt ist nur eine von mehreren Säulen des Lebensraum- und damit Biodiversitätsschutzes. Sie verdient eine sachlich-nüchterne Betrachtung. Eine pauschale Ideologisierung bis hin zu extremen Formen wie einerseits Romantisierung, andererseits Verunglimpfung ist in der Diskussion um Wildnis in Schleswig-Holstein nicht hilfreich. Wildnis von vornherein gegenüber anderen Formen der Ökosystemausprägung bzw. flächenbezogenen Naturschutzmaßnahmen als grundsätzlich über- oder unterlegen zu deklarieren, ist aus Naturschutzsicht unangemessen. Wildnisentwicklung ist also weder als Allheilmittel des Naturschutzes zu verklären, noch als „Flächenverlodderung“ zu diffamieren.
Nach Auffassung des NABU ist eine nüchterne Betrachtung notwendig: Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen einer Wildnisentwicklung in Schleswig-Holstein? Zu dieser Frage hat der NABU einige Aspekte zusammengetragen:
1.Definition
Wildnisgebiete umfassen alle Flächen, auf denen die Eigenentwicklung der Natur absoluten Vorrang vor Nutzungsansprüchen hat, d.h. auf denen eine Nutzung im Sinne von Bewirtschaftung oder Freizeitgestaltung, aber auch Pflegeeingriffe nicht mehr stattfinden. Diese Definition sollte als Basis zum Verständnis von Wildnis gelten, also ohne verpflichtende Bezüge zu Flächenumfang und Naturnähe. Die weitergehenden Kriterien des IUCN, nach denen Wildnis unter anderem als „ausgedehntes, ursprüngliches oder leicht verändertes Gebiet, das seinen ursprünglichen Charakter bewahrt hat“, sind für Schleswig-Holstein mit Ausnahme des Wattenmeeres und einiger Bereiche an der Unterelbe nicht erreichbar. Häufiger und weiter im Land verbreitet sind dagegen sekundäre, oft gezielt aus vormals genutzten Bereichen entwickelte Wildnisse wie der selbstständigen Weiterentwicklung überlassene Vernässungsgebiete und Eindeichungen. Von diesen können einige im Maßstab Schleswig-Holsteins durchaus als größerflächig gelten. Bei realistischer Betrachtung dürften sich aber für weitere Wildnisgebiete selbst die für Deutschland diskutierten Mindestgrößen von 1000 bis 3000 Hektar nicht verwirklichen lassen.
2. Nicht an Flächengröße binden
Wildnisentwicklung in Schleswig-Holstein sollte schon allein deswegen grundsätzlich nicht größengebunden erfolgen. Zudem können auch kleine Flächen, selbst von weniger als einem Hektar Umfang, ihren Wert als „unberührte“ Natur haben. Dies gilt gerade dann, wenn das Umfeld einer intensiven Nutzung unterliegt. Zum besseren Schutz kleiner Wildnisinseln sollten im Landesnaturschutzgesetz die „sonstigen Sukzessionsflächen“ wieder den Status des gesetzlich geschützten Biotops (§ 21LNatSchG i.V.m. § 30 BNatSchG) erhalten.
3. Vollkommene Unberührtheit nicht erreichbar
Neben der Ursprünglichkeit (also ein vom Menschen unbeeinflusster Ausgangszustand) ist auch die vollkommene Unberührtheit nicht zu erreichen. Als wesentliche anthropogene Einflüsse lassen sich die Stoffeinträge aus der Atmosphäre bei realistischer Betrachtung nicht verhindern, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Insbesondere die Stickstoffimmissionen beeinflussen die Biodiversität stark negativ.
4. Zielführende Eingriffe gestatten
Eingriffe mit dem Ziel, die Naturnähe der vorgesehenen Wildnisgebiete zu erhöhen (zum Beispiel durch Aufhebung der Entwässerung oder Entnahme nicht standortheimischer Gehölze), sind grundsätzlich positiv zu sehen und stehen der Wildnisentwicklung keinesfalls entgegen. Sie sollten sich aber auf die Anfangszeit beschränken bzw. zeitlich begrenzt bleiben. Die Instandhaltung von dem Naturschutz dienenden Staumaßnahmen in Mooren muss allerdings dauerhaft erfolgen können.
5. Keine „Erbsenzählerei“
Das nun auch über das Landesnaturschutzgesetz (Entwurf) festgelegte Ziel, auf zwei Prozent der Fläche Wildnisgebiete einzurichten, sollte nicht mühsam durch den Versuch einer Aufrechnung selbst der allerkleinsten im Lande verteilt liegenden Sukzessionsflächen oder durch Einbeziehung des Wattenmeeres in die Statistik abgearbeitet werden. Hinsichtlich der Verwirklichung der mit der Wildnisentwicklung verbundenen Intentionen ist weder eine akribische Aufrechnung noch eine kurzfristige und damit möglicherweise übereilte, weil konzeptionslose Realisierung erforderlich.
6. Weidelandschaften sind keine Wildnis
Halboffene Weidelandschaften sind nicht zu den Wildnisgebieten zu zählen, obgleich sie als „Wilde Weiden“ bezeichnet werden. Denn in den Weidelandschaften wird die Vegetationsentwicklung gezielt durch die Beweidung unter bewusster Vermeidung der flächigen Sukzession gelenkt.
7. Ohne Jagd und Fischerei
Nicht nur der Entwicklung der Vegetation, sondern auch der der Tierwelt ist in Wildnisgebieten freier Lauf zu lassen. Deshalb sind dort Jagd und Fischerei zu unterbinden. Dies muss auch für Rehe, Hirsche und Wildschweine gelten. Zumal ein Gebiet, in dem durch Bejagung der Einfluss großer Huftiere auf die Pflanzendecke künstlich beeinflusst wird, nicht als Wildnis bezeichnet werden kann.
8. Wildnis auch innerorts
Erhalt und Entwicklung von Wildnisflächen sollten sich nicht ausschließlich auf die freie Landschaft (sogenannter Außenbereich) beschränken. Wildnisflächen sind auch inmitten oder am Rand von Siedlungsbereichen als „grüne Oasen“ von nicht zu unterschätzender Bedeutung für Natur und Mensch.
9. Naturschutzbelange vor Erholungsinteressen
Erholungssuchende Menschen sollten in Wildnisgebieten nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden. Jedoch haben sich die Erholungsbelange den Naturschutzbelangen unterzuordnen. Eine „Möblierung“ mit Bänken, Infotafeln und anderen touristischen Ausstattungen sollte sich auf die Randbereiche beschränken. Wegetrassierungen sollten nur ausnahmsweise erfolgen. Im städtischen Umfeld sollten Wildnisgebiete von Kindern als frei gewählte Naturerlebnisorte zum Spielen und Naturbeobachten aufgesucht werden dürfen. Auf eine Steuerung der Kinderaktivitäten sollte ebenso wie auf eine Ausstaffierung als ‚Lernorte‘ verzichtet werden.
10. Vorbestimmte Wildnisgebiete
Als Wildnisgebiete vorbestimmt sind sogenannte Naturwälder. Naturgemäß bestockte Wälder bilden für die Sukzessionsfolge meistens ohnehin das Klimaxstadium. Die Aufgabe der forstlichen Nutzung insbesondere in Altholzbeständen führt zu einem erheblichen Biodiversitätsanstieg. Weiterhin sind als größere Wildnisgebiete vor allem die amphibischen Bereiche der Westküstenköge und an der Unterelbe, ausgedehnte Verlandungsbereiche der Binnengewässer und wiedervernässte Niederungen, sofern sie ihrer Eigendynamik überlassen worden sind, bereits vorhanden. Gut geeignet sind zudem regenerierte Hochmoore.
11. Zusätzliche Wildnisgebiete
Potenzial zur Entwicklung zusätzlicher Wildnisflächen bieten unter anderem weitere zur Vernässung geeignete Niederungen einschließlich Fließgewässerauen. Prädestiniert für die Schaffung neuer Wildnisbereiche sind Acker- und Intensivgrünland, um dieses über eine Verbuschung zu Wald auswachsen zu lassen. Hierbei wäre die ökologische Wertschöpfung im Hinblick auf den Ausgangszustand sehr groß. Gerade auf durch vorherige Nutzung eutrophen, relativ artenarmen Flächen bietet sich die Wildnisentwicklung als Alternative zur naturschutzbezogenen Beweidung an.
12. Wildniskonzeption auch für Seen
Die Wildniskonzeption sollte sich nicht nur auf terrestrische und amphibische Bereiche, sondern auch auf Seen beziehen und hier auf den absoluten Verzicht von Fischerei- und Wassersport-Aktivitäten hinwirken. Denn in Schleswig-Holstein existiert bislang kaum ein größeres Stillgewässer, das nicht befischt wird. Durch die Befischung (und den damit in der Regel verbundenen Besatz) wird jedoch massiv in die natürliche Zusammensetzung der Fischfauna eingegriffen.
13. Sorgfältige Eignungsprüfung
Jede in die Kulisse zukünftiger Wildnisgebiete aufzunehmende Fläche muss vorher einer Prüfung mittels einer vor allem auf den Faktor Biodiversität ausgerichteten ökologischen Bilanzierung unterworfen werden. Dafür sind die Perspektiven der Vegetationsentwicklung im Hinblick auf die eventuelle zukünftige Wildnisgenese fachlich abzuschätzen. Maßstab dabei muss sein, dass durch die Sukzession auf den betroffenen Flächen keine Vorkommen an seltenen Artengemeinschaften vernichtet werden dürfen. Wertvolle kulturhistorisch bedingte Ökosystemtypen wie Heiden, artenreiches Grünland, Trocken- und Magerrasen, die zum Erhalt ihres Artenbestands offen gehalten werden müssen, scheiden somit als potenzielle Wildnisflächen aus, ebenso Kratts und andere Stockausschlagswälder. Ebenfalls nicht der Sukzession überlassen werden sollten degradierte Hochmoore, soweit Möglichkeiten zur Regeneration bestehen.
Auch ehemalige Kiesgruben und andere Abgrabungsflächen sollten nicht grundsätzlich der natürlichen Sukzession in allen ihren Stadien überlassen werden. Für viele andernorts in Schleswig-Holstein seltenere Arten magerer, trockener und warmer Standorte sind Kiesgruben nur so lange von besonderer Bedeutung, wie sie zumindest teilweise offen gehalten werden.
14. Neophyten als Problem
Als Wildnisgebiete ungeeignet sind außerdem Bereiche, die stark von invasiven Neophyten eingenommen werden und bei denen eine Ausbreitung von verbreitungsoffensiven, konkurrenzstarken Neophyten anzunehmen ist. Hier sind vor allem die Spätblühende Traubenkirsche (Prunus serotina) in Wäldern und die Kartoffelrose (Rosa rugosa) in Dünen zu nennen.
15.Kostengünstiger Naturschutz
Wildnisentwicklung ist eine kostengünstige Form des Flächenschutzes, da sie keine künstliche Infrastruktur und nur wenig Betreuung benötigt. Lässt sich das Entwicklungspotenzial von Naturschutzflächen perspektivisch als begrenzt einschätzen, sollte auch dieses ökonomische Argument bei der Wahl des zukünftigen Biotopmanagements Gewicht haben.
Fazit
Die Wildniskonzeption Schleswig-Holsteins sollte mit Bedacht ausgearbeitet werden, wobei hinsichtlich der betroffenen Flächen Schutz und Entwicklung der Biodiversität maßgeblich sein müssen. Ökoklogisch wertvolle Offenlandökosysteme sind generell auszuklammern. Neben bereits bewusst ihrer Eigenentwicklung überlassenen Gebieten, hier insbesondere Wälder, sollten vor allem bislang intensiv genutzte Agrarflächen ins Auge gefasst werden.
Für die Wildnisentwicklung sind grundsätzlich zwar eher größere zusammenhängende Flächen geeignet. Die Größe sollte aber kein grundsätzliches Ausschlusskriterium bilden. Auf die Ansprüche von Arten wie beispielsweise die Wildkatze zu spekulieren, die sehr große und ungestörte, naturnahe Areale benötigen, dürfte für Schleswig-Holstein keine realistische Perspektive sein.
Fritz Heydemann, 24. April 2016
zum download als pdf (24. April 2016)
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